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Ausbeutung oder sozio-kulturelles Erbe? Divergenzen um das Phänomen der Talibé im postkolonialen Senegal

Katharina Maria Zlattinger

Wien, March 2022 | 978-3-902906-60-1

Kinderrechte, festgeschrieben in der UN-Kinderrechtskonvention von 1989, spielen im internationalen Entwicklungsdiskurs eine wichtige Rolle. So haben u.a. die Kinderrechte auf Bildung, Gesundheit und Gleichheit direkte Relevanz für die Nachhaltigen Entwicklungsziele SDG 4, SDG 2 und SDG 10. Ein wesentliches Thema ist in diesem Zusammenhang auch die Debatte um Kinderarbeit, deren Bekämpfung vielen internationalen Akteuren, allen voran der ILO und der UNICEF, ein Anliegen ist.

Gerade die Frage von Kinderarbeit wird jedoch auch kontrovers diskutiert. Kritik am dominanten Entwicklungsdiskurs gibt es dahingehend, dass ein westlich geprägtes Konzept von Kindheit ohne ausreichende Berücksichtigung von sozialen, ökonomischen und kulturellen Faktoren der Debatte zugrunde liegen würde.

Katharina Maria Zlattinger setzt an dieser Kontroverse an. In ihrer Masterarbeit mit dem Titel „Ausbeutung oder sozio-kulturelles Erbe? Divergenzen um das Phänomen der Talibé im postkolonialen Senegal“ beschäftigt sie sich mit der Geschichte und Gegenwart der senegalischen Koranschüler (durchwegs männlichen Geschlechts). Dabei steht die Frage im Zentrum, ob deren Tätigkeit des organisierten Bettelns eine Form von Kinderarbeit und wirtschaftlicher Ausbeutung ist, oder ob die adäquate Berücksichtigung des lokalen soziokulturellen Kontextes zu einer anderen Bewertung führen würde. Frau Zlattinger ist es ein explizites Anliegen, eine eurozentrische Perspektive auf ihre Forschungsfrage zu vermeiden. Sie tut dies, indem sie versucht, das Phänomen in seinem Kontext zu verstehen. Dafür setzt sie sich ausführlich mit der Geschichte des Islam und des Bildungswesens im Senegal auseinander und erläutert u.a., aufgrund welcher schwierigen wirtschaftlichen Dynamiken die traditionellen Institutionen der Koranschulen auf das organisierte Betteln ihrer Schüler zurückgreifen.

Die Autorin zeichnet überzeugend das Spannungsverhältnis zwischen dem internationalen Kinderrechtsdiskurs, dessen Konventionen auch vom senegalesischen Staat unterzeichnet wurden, und lokalen Konzepten von Kinderarbeit, Kinderhandel und Bildung bzw. Erziehung nach. Sie kommt zu dem Schluss, dass keine klare Trennlinie zwischen diesen Konzepten gezogen werden kann, sie aber auf der Mikroebene des lokalen Kontextes deutlich anders verstanden werden, als auf der Makroebene der internationalen Konventionen. Sie weist auch darauf hin, dass dieses Spannungsverhältnis ein asymmetrisches ist, insofern als der internationale Diskurs, der Senegals Islamschulen der Ausbeutung von Kindern bezichtigt und zunehmend staatliche und zivilgesellschaftliche Regulierungsversuche nach sich zieht, nicht frei von islamkritischer Einflussnahme ist.

Katharina Maria Zlattingers Arbeit leistet einerseits einen wichtigen Beitrag zu einer analytischen, nicht normativen Diskussion zum Thema Kinderrechte in globaler Perspektive. Andererseits fordert sie ihre (europäischen) Leser*innen auf, als objektiv wahrgenommene Konzepte immer wieder als Konstrukte eines westlich geprägten soziokulturellen und sozioökonomischen Kontextes zu hinterfragen.

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