Aktueller Kommentar Oktober 2024
Fünf Jahre türkis-grüner Entwicklungspolitik: eine Bilanz

Zeit für eine Bilanz: Was hat die türkis-grüne Koalitionsregierung entwicklungspolitisch erreicht, was nicht? Und was könnte die nächste Regierung daraus lernen?
Von Lukas Schlögl (ÖFSE), Oktober 2024
Komplexe Ausgangslage
Mit Oktober endet Österreichs 27. Legislaturperiode und damit eine turbulente Phase der jüngeren politischen Zeitgeschichte. Zur Erinnerung: 2019 fanden nach dem Sturz der türkis-blauen Regierung vorgezogene Nationalratswahlen statt, die Sebastian Kurz erneut zum Bundeskanzler machten, diesmal in einer Koalition mit den Grünen. Im Oktober 2021 trat Kurz im Gefolge von Ermittlungen der Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft zurück. Auf den interimistisch amtierenden Alexander Schallenberg folgte im Dezember 2021 Karl Nehammer als Bundeskanzler, der die türkis-grüne Koalition bis zum Ende der Legislaturperiode fortführte. Schallenberg amtierte weiterhin als Außenminister.
Insgesamt betrat die scheidende Regierung nicht nur koalitionäres Neuland, sondern manövrierte eine innen- und außenpolitisch unruhige Zeit, die unter anderem durch die COVID-19-Pandemie, Krieg in der europäischen Nachbarschaft und eine Phase steigender Inflation gekennzeichnet war.
Hoch gesteckte Ziele …
Zu Beginn der türkis-grünen Regierung steht das Regierungsprogramm, in dem man sich dazu bekennt, „[…] die finanziellen Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit zu erhöhen. Zentrale Zielsetzungen sind, […] Perspektiven vor Ort zu schaffen, humanitäre Hilfe in Krisenregionen auszubauen, einen verstärkten Fokus auf das Thema Migration zu legen und mehr Möglichkeiten für wirtschaftliche Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu schaffen, sowie entwicklungspolitische Bildungsarbeit in Österreich aufzuwerten“.
In quantitativer Sicht nimmt sich die Regierung eine Aufstockung der bilateralen und humanitären Mittel sowie „ausreichende“ Finanzierung der Inlandsarbeit vor. Dies solle vor dem Hintergrund einer „schrittweisen Erhöhung“ der gesamten Entwicklungsgelder Richtung 0,7 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) geschehen. In qualitativer Sicht plant die Regierung eine Strategie für die humanitäre Hilfe sowie eine „Weiterentwicklung“ des Dreijahresprogramms. Die Themenschwerpunkte Migration und das Vor-Ort-Narrativ zeigen türkise, Akzente bei Umwelt- und Klimaschutz grüne Handschrift.
… mit hinkender Umsetzung
Zu Beginn der Legislaturperiode steht die Entwicklungszusammenarbeit (EZA) stark unter dem Eindruck der COVID-19 Pandemie. Die Regierung beteiligt sich an internationalen Initiativen und Allianzen wie COVAX (COVID-19 Vaccines Global Access) und setzt auch gesundheitliche Schwerpunkte in der Projektarbeit. Mediale Aufmerksamkeit erregt die Anrechnung der Spenden überschüssiger COVID-19 Impfstoffe an Länder des Globalen Südens als öffentliche Entwicklungsleistungen (Official Development Assistance, ODA).
In finanzieller Hinsicht steigert die Regierung das Budget des Auslandskatastrophenfonds (AKF) für internationale Sofortmaßnahmen deutlich (von €25 Mio. im Jahr 2020 auf zuletzt €80 Mio. 2024). Dieses stark gewachsene Budget ist zugleich vielleicht das fragilste entwicklungspolitische Vermächtnis der scheidenden Regierung, denn es beruht auf einem speziellen Kompromiss aus Vor-Ort-Prinzip, dem Bekenntnis zur Steigerung der Entwicklungsgelder, humanitärem Engagement (einschließlich Strategie und einer Sonderbeauftragten), und einem Instrumentarium, das laufende Ministerratsbeschlüsse und damit koalitionären Konsens über alle Auszahlungen erfordert.
Über die humanitäre Hilfe hinaus setzen verschiedene Ressorts Initiativen in Bereichen wie internationale Klimafinanzierung (€210 Mio. des Klimaministeriums für den Green Climate Fund 2022-2027), Nahrungsmittelsicherheit (€57 Mio. des Landwirtschaftsministeriums für das World Food Programme 2023-2025) und globale Armutsbekämpfung (€12 Mio. des Sozialministeriums für Projekte gemeinnütziger Organisationen 2024-2026). Die Inlandsarbeit erhält mit einer neuen Leitlinie zwar ein inhaltliches Update, aber real keine zusätzlichen Finanzmittel. Das operative Budget der Austrian Development Agency (ADA) stagniert inflationsbereinigt.
In Hinsicht auf die gesamten öffentlichen Entwicklungsleistungen (ODA), scheint deren schrittweise Erhöhung anfangs zu gelingen: 2020 liegt die ODA bei 0,30% des BNE, 2021 bei 0,31%, 2022 springt sie auf 0,39%. Bereits 2023 liegt die Quote mit 0,38% aber leicht unter dem Vorjahr und für 2024 lässt die Prognose des BMF einen deutlichen Einbruch erwarten. Das wesentliche entwicklungspolitische Finanzierungsziel des Regierungsprogramms wäre damit gescheitert. Die Steigerungen 2022-2023 sind wohlgemerkt vor allem anrechenbaren Asylkosten zuzuschreiben. Trotz einiger punktueller Initiativen bleibt Österreich damit nach wie vor hinter allen westeuropäischen DAC-EU-Gebern und auch hinter seinem eigenen ökonomischen Potenzial zurück.
Wesentliche strategische Vorhaben im Bereich der Entwicklungspolitik verzögern sich. Aufgrund politischer Uneinigkeit gelingt sowohl die Verabschiedung des Dreijahresprogramms 2022–2024 als auch der humanitären Strategie erst spät. Das Dreijahresprogramm 2025-2027 wird in einem aufwendigen ressortübergreifenden Prozess koordiniert – ein Beschluss desselben bleibt zur allgemeinen Verwunderung aus. Ebenso wenig erblicken zwei von Außenministerium und Bundeskanzleramt parallel entwickelte Strategien zu Afrika das Licht der Welt.
Im Frühjahr 2024 veröffentlicht der Entwicklungsausschuss der OECD einen Zwischenbericht zu seinem 2020 durchgeführten „Peer Review“. Der Zwischenbericht lobt einige Entwicklungen im Dreijahresprogramm 2022-2024 und die Aufstockung der humanitären Hilfe, äußert sich jedoch kritisch gegenüber Positionierungen im Bereich Migration und sieht nur beschränkten Fortschritt in der Umsetzung eines ODA-Finanzierungspfads.
Entwicklungspolitik nach der „Zeitenwende“
Außenpolitisch fällt die Regierungsperiode in eine disruptive Zeit. Der Russische Angriffskrieg auf die Ukraine (seit 2022) sowie die Eskalation des Nahost-Konflikts (seit 2023), aber auch ein schweres Erdbeben in der Türkei und Syrien (2023) führen zu massiven humanitären Verwerfungen in der europäischen Nachbarschaft. Die Ereignisse vertiefen die Humanitarisierung und Versicherheitlichung der EZA und bringen auch ein neues Maß an politischer Polarisierung mit sich.
Der Krieg in der Ukraine macht diese zum größten bilateralen ODA-Empfängerland. Neben Beiträgen zu multilateralen Initiativen schlagen hier aber vor allem die Anrechnung von Kosten für die Betreuung Geflüchteter und errechnete Studienplatzkosten zu Buche. Auch in der nationalen Sicherheitsstrategie, die die Regierung zuletzt noch verabschiedet, finden entwicklungspolitische Aspekte Eingang. Das Zusammenspiel humanitärer, friedensstiftender und EZA-Maßnahmen unter dem Schlagwort „Humanitarian-Development-Peace (HDP)-Nexus“ wird zunehmend als zentrale Aufgabe anerkannt.
Österreichs entwicklungspolitische Aktivitäten in Gaza werden 2023 Gegenstand kontroverser Bewertungen. Einige Geberländer einschließlich der Europäischen Kommission stellen nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel im Oktober 2023 Hilfslieferungen nach Gaza auf den Prüfstand. Auch Österreichs Regierung setzt EZA-Zahlungen vorübergehend aus und ordnet eine Kontrolle an. Der Verdacht der Terrorfinanzierung erhärtet sich in weiterer Folge nicht. Auch eine umfassende und kritische Evaluierung von 30 Jahren Österreichischer EZA in Palästina, die zufällig 2023 abgeschlossen wird, birgt keine Indizien auf eine Zweckentfremdung von Mitteln. Dennoch bleibt von der polarisierten Debatte ein Reputationsschaden für den Sektor.
Wie weiter?
Die Entwicklungspolitik befindet sich in einer Umbruchphase und wird international stärker als früher in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund sollte es in der nächsten Legislaturperiode um eine Wiederbelebung und Neuausrichtung gehen.
Dafür braucht es erstens ein geeignetes Narrativ: eine Erzählung darüber, wie Entwicklungspolitik wirkt und warum wir sie brauchen. Diese Erzählung muss eine komplexe Gemengelage aus instabiler und multipolarer Welt, eskalierenden Umweltproblemen, Globalisierung und Migration zu integrieren verstehen. Gesellschaftliche Unterstützung kann EZA dann für sich beanspruchen, wenn sie glaubhaft Beiträge zur Lösung dieser „Weltprobleme“ beisteuert. Ein breites Verständnis von menschlicher Sicherheit könnte dafür die Basis sein. Auf ein neues entwicklungspolitisches Narrativ kann eine breitenwirksame Öffentlichkeitsarbeit aufbauen, die jenseits der „EZA-Blase“ Wirkung entfaltet.
Zweitens sollte das Außenministerium der Entwicklungspolitik darauf aufbauend stärkeres Gewicht geben. Der immer wieder gehörte Glaubenssatz, dass Entwicklungspolitik ein integraler Teil der Außenpolitik sei, muss mit Leben erfüllt werden. Das bedeutet, die strategische Entwicklung des Politikfelds aktiv voranzutreiben und dabei Ziele und Wirkungen verschiedener Politikfelder einzubeziehen. In einer geopolitischen Welt, die von Krisen, Konflikten und humanitären Katastrophen gezeichnet ist, muss Entwicklungspolitik „Chefsache“ in einem Außenressort sein.
Drittens sollten an die Stelle großer Ambitionen im Bereich der Entwicklungsfinanzierung realistische und konkrete Finanzierungsziele treten, die von allen Parteien mitgetragen werden. Mit einem leeren Bekenntnis zu 0,7% ist niemandem geholfen. Um seinen internationalen Finanzierungszusagen nachzukommen, braucht Österreich einen budgetär und politisch tragfähigen Finanzierungspfad, der Erreichtes absichert und sich dem Fernziel in konkreten Schritten nähert. Synergien der EZA mit Klima- und Friedensfinanzierung sollten in diesem Kontext mit bedacht werden.
Viertens sollte mittelfristig ein Reflexionsprozess über Struktur und Zusammenspiel der öffentlichen EZA-Institutionen in Österreich stattfinden, der auch in legistische Reformen münden könnte. Sind die geschaffenen Institutionen und ihre Instrumente hinsichtlich der Bewältigung der aktuellen Krisenlagen erfolgsversprechend? Passen Governance und Funktionsweisen zum Anspruch der Gesamtstaatlichkeit und politischen Kohärenz? Gelingt das Zusammenspiel der Institutionen sowohl in Österreich als auch im Konzert mit internationalen Akteuren?
Diese Grundsatzthemen sollte die nächste Regierung in Angriff nehmen, um die Relevanz und Wirksamkeit der EZA in einer sich wandelnden Welt zu garantieren – und damit die Legitimität der Entwicklungspolitik abzusichern.
Dr. Lukas Schlögl ist Senior Researcher an der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE).
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