Aktueller Kommentar Dezember 2022
Der europäische CO2-Grenzausgleichsmechanismus: ökologisch gerechtfertigte Best-Practice, oder wenig durchdachter Unilateralismus?
Nach der Einigung zwischen EU-Kommission, EU-Parlament und Rat letzte Woche, ist die Einführung des EU-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM) im Rahmen des neuen EU Emissionshandelssystems mit Oktober 2023 beschlossene Sache. Wenngleich ökologisch motiviert, bleiben seine Effektivität wie auch WTO-Kompatibilität abzuwarten. Auch die globalen Auswirkungen des CBAM wurden nicht überzeugend geregelt. Mit Protesten anderer Staaten ist zu rechnen.
Von Werner Raza (ÖFSE)
CBAM als Teil des „Fit-for-55“-Pakets
Im Kampf gegen den Klimawandel will die Europäische Union die Netto-Treibhausgasemissionen (THG) bis 2030 um mindestens 55% gegenüber dem Stand von 1990 senken. Bis 2050 soll die EU klimaneutral werden. Auch wenn sich viele Länder im Rahmen des Pariser Klimaabkommens zur Erreichung der Klimaneutralität zwischen 2040 und 2060 verpflichtet haben und eine deutliche Reduzierung ihrer THG-Emissionen in den nächsten 10 Jahren planen, bleiben die Pläne der EU im internationalen Vergleich recht ambitioniert. Unter dem Namen „Fit-for-55“ stellte die EU-Kommission (EK) dazu ein Paket verschiedener Maßnahmen vor. Dazu gehört ein CO2-Grenzausgleichsmechanismus (CBAM), zu dem die EK im Juli 2021 einen Gesetzesvorschlag vorgelegt hat. In einer aktuellen Studie hat die ÖFSE mit dem Institute for Law and Governance der WU Wien eine wirtschaftliche und rechtliche Analyse des EK-Entwurfs vorgenommen. Der CBAM sieht vor, dass Importeure für ausgewählte Grundstoffe und Grundprodukte aus den emissionsintensiven Sektoren Eisen/Stahl, Aluminium, Zement und Düngemittel sowie Strom CO2-Zertifikate erwerben müssen. Ihr Preis entspricht dem Zertifikatspreis des EU-Emissionshandelssystems (EU-ETS). Wie viel CO2in dem jeweiligen Produkt enthalten ist, muss der Importeur im Einzelfall oder anhand von Referenzwerten der EK beziffern. Darauf können bereits bezahlte CO2-Preise in Drittstaaten angerechnet werden. Dieses Verfahren soll Kostenunterschiede zwischen im Inland (d.h. in der EU) und im Ausland hergestellten Waren ausgleichen, und Drittstaaten letztlich einen Anreiz geben, ein der EU vergleichbares CO2-Bepreisungssystem einzuführen.
Inter-institutionelle Konsultationen zwischen der Kommission, dem Rat der EU und dem Europäischen Parlament haben am 12. Dezember 2022 zu einer vorläufigen Einigung geführt, den CBAM-Mechanismus im Oktober 2023 zu starten, d.h. neun Monate später als im EK-Vorschlag vorgesehen. Der Produktumfang wurde um Wasserstoff, indirekte Emissionen (v.a. aus Elektrizität) sowie einige nachgelagerte Produkte erweitert. Nach einer dreijährigen Übergangsphase soll die EK überprüfen, ob eine weitere Ausweitung des Produktumfangs möglich ist. Die WTO-Kompatibilität des CBAM soll im finalen Gesetzestext durch einen Passus erhöht werden, wonach die Einnahmen aus dem CBAM den Niedrigeinkommensländern zufließen sollen. Vereinbarungen zu anderen wichtigen Aspekten, nämlich vor allem die schrittweise Abschaffung kostenloser Zertifikatszuteilungen und zu Exporterstattungen, wurden am 18. Dezember 2022 im Rahmen der Verhandlungen zum EU-Emissionshandelssystem (ETS) erzielt. Die kostenlose Zertifikatezuteilung wird im Zeitraum 2026–2034 schrittweise auslaufen, wobei in umgekehrt proportionalem Verhältnis dazu CBAM Quoten eingeführt werden. Das bedeutet, dass der CBAM erst 2034 voll funktionsfähig sein wird. Im Gegenzug für die kostenlose Zuteilung von Zertifikaten bis 2034 müssen EU Firmen Dekarbonisierungsmaßnahmen durchführen. Tun sie dies nicht, können die freien Zuteilungen um bis zu 20% gekürzt werden. Exporterstattungen an Unternehmen, deren Exporte durch den Kauf von Zertifikaten verteuert werden, soll es nicht geben, allerdings bekommen Mitgliedsstaaten zusätzliche Mittel, um die Dekarbonisierung von besonders betroffenen Industrien zu unterstützen. Festgeschrieben wurde auch, dass alle Einnahmen aus dem Zertifikatehandel für den Klimaschutz und soziale Abfederungsmaßnahmen (sog. Just Transition) verwendet werden müssen (und damit nicht in den allgemeinen EU-Haushalt gehen).
Das Risiko von Carbon Leakage als zentrale Motivation von CBAM
Das zentrale klimapolitische Instrument der EU ist das EU-ETS. Durch die geplante Reduzierung der jährlich verfügbaren Emissionszertifikate und das Auslaufen der kostenlosen Zuteilung von Zertifikaten an produzierende Unternehmen in der EU bis 2034, dürften steigende CO2-Preise einen starken Anreiz zur Steigerung der Energie- und Ressourceneffizienz setzen, allerdings auch die Produktionskosten für EU Unternehmen verteuern. Ein zentrales Problem dieses Systems betrifft das Risiko des Carbon Leakage, also der Verlagerung von EU-basierter Produktion und damit von THG-Emissionen in Länder mit weniger strenger Klimapolitik. Durch die Minderung der preislichen Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft könnte es zu einem Verlust an Produktionskapazität und damit an Wertschöpfung und Beschäftigung in der EU kommen, mit negativen Folgen für die politische Akzeptanz der ambitionierten EU-Klimaziele.
Die empirische Evidenz für Carbon Leakage ist bisher gemischt. Studien zeigen beispielsweise, dass einige Länder, die dem Kyoto-Protokoll beigetreten sind, ihre eigenen Emissionen reduziert, aber CO2-intensivere Güter aus anderen Ländern importiert haben, was auf einen Carbon-Leakage-Effekt hindeutet. Andere Studien, die auf Befragungen von EU-Unternehmen und empirischen Studien zum EU-Emissionshandel basieren, haben bisher keine signifikanten Carbon-Leakage-Effekte festgestellt. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass der CO2-Preis bisher niedrig war. Zudem wurde in der EU dem Risiko eines möglichen Carbon Leakage bisher aktiv durch die kostenlose Zuteilung von Emissionszertifikaten an energieintensive Sektoren entgegengewirkt.
Beide Faktoren werden sich in den kommenden Jahren deutlich verändern. Durch das Auslaufen der kostenlosen Zuteilung von Emissionszertifikaten bis 2034, wird die Belastung der EU-Unternehmen durch CO2-Preise zunehmen. Die Einführung eines einseitigen EU-CBAM ist daher ein wichtiger Baustein zur Unterstützung eines effektiven EU-Emissionshandels. Modellsimulationen deuten jedenfalls darauf hin, dass das Risiko von Carbon Leakage durch den CBAM gemindert werden kann. In welchem Ausmaß, bleibt allerdings abzuwarten.
Technische Umsetzung ist komplex
Die Analyse des CBAM-Vorschlags zeigt aber auch, dass es sowohl hinsichtlich der Frage der Wirksamkeit, als auch hinsichtlich seiner WTO-Kompatibilität Problemfelder gibt. Risiken in Bezug auf die Wirksamkeit ergeben sich vor allem aus dem begrenzten Geltungsbereich der CBAM auf Grundstoffe und Grundprodukte in den Bereichen Eisen/Stahl, Aluminium, Zement, Düngemittel, Wasserstoff sowie Strom. Im wirtschaftlich wichtigen Bereich der Herstellung verarbeiteter Produkte besteht also noch Potenzial für Carbon Leakage. Auf diese Weise könnte der CBAM umgangen werden, wenn anstelle von Rohstoffen verarbeitete Produkte importiert werden, die nicht dem CBAM unterliegen. Abgesehen von einigen Ausnahmen wurde dieses Risiko im Rahmen der Einigung am 12. Dezember nicht umfassend adressiert. Gestützt auf einen Teil der wissenschaftlichen Literatur forderte das EP die Ausweitung des Geltungsbereichs der CBAM auf alle Produkte, die die im EU-ETS aufgeführten Grundstoffe enthalten. Dies wirft jedoch die Frage nach der Machbarkeit und dem Verhältnis von Kosten und Nutzen eines solchen Ausbaus auf. Zwei besonders CO2-intensive Grundstoffsektoren, Raffinerieprodukte und Produkte der organischen Chemie, bleiben vom Anwendungsbereich ausgenommen, nicht zuletzt, weil hier die Emissionen einzelner Produkte nicht eindeutig definiert werden können. Für weiterverarbeitete Produkte wäre dies nur möglich, wenn Methoden zur Messung des CO2-Gehalts der zahlreichen Rohstoffe und Komponenten, die in komplexen verarbeiteten Produkten (wie z.B. Autos) enthalten sind, eingeführt würden. Das ist methodisch äußerst aufwändig und für Importeure mit hohen administrativen Kosten verbunden. Wichtige Voraussetzungen dafür sind derzeit nicht gegeben. Auch wenn die geplanten CBAM-Sektoren 55–60% der Industrieemissionen abdecken, bleibt der Anwendungsbereich damit kurz- und mittelfristig begrenzt.
WTO-Kompatibilität bleibt offen
Der CBAM-Entwurf der EK ist vom Bemühen gekennzeichnet, Konflikte mit dem Recht der Welthandelsorganisation (WTO) zu vermeiden. Dennoch könnten Elemente des in Aussicht genommenen Mechanismus gegen grundlegende Prinzipien des WTO-Rechts verstoßen. In diesem Zusammenhang spielen neben den im Rahmen des GATT (General Agreement on Tariffs and Trade) festgelegten Obergrenzen für Zölle und andere im Zusammenhang mit der Einfuhr erhobene Abgaben insbesondere die zentralen Bestimmungen zu Meistbegünstigung (Art. I), Inländerbehandlung (Art. III) und zu den Allgemeinen Ausnahmebestimmungen (Art. XX) eine wichtige Rolle.
Am ehesten möglich scheint es, den CBAM unter Rückgriff auf die zentralen Ausnahmebestimmungen des Art. XX GATT zu rechtfertigen. Eine solche Rechtfertigung kann sich insbesondere auf Art. XX(b) (Schutz des Lebens und der Gesundheit von Menschen, Tieren und Pflanzen) oder Art. XX (g) GATT (Schutz erschöpfbarer natürlicher Ressourcen) stützen. Wichtig sind hier der Nachweis der „Notwendigkeit“ der Maßnahme und ihrer Wirksamkeit bei der Erreichung des politischen Ziels (z.B. Vermeidung von Carbon Leakage, Klimaschutz). Die EU muss also nachweisen können, dass der CBAM tatsächlich wirksam ist. Dabei wäre die „unmittelbare“ (durch die unmittelbare Wirkung der Maßnahme) und die „mittelbare“ (z.B. durch die Verwendung der Maßnahmenerlöse) Wirksamkeit nachzuweisen. Art. XX(g) GATT setzt die Notwendigkeit der Maßnahme nicht voraus und räumt den WTO-Mitgliedern daher mehr Spielraum ein. In jedem Fall darf die Anwendung des CBAM nicht zu einer willkürlichen oder ungerechtfertigten Diskriminierung führen oder eine verschleierte Beschränkung des internationalen Handels darstellen.
Innovationsförderung als Ergänzung
Aufgrund dieser praktischen und rechtlichen Erwägungen sollte der CBAM aus administrativer Sicht möglichst einfach zu handhaben sein und der Fokus auf der indirekten Steigerung seiner Wirksamkeit liegen. Zudem sollten CBAM und das ETS vor allem um nicht preisbasierte Instrumente mit Fokus auf transformative Forschung und Innovation ergänzt werden. Dafür gibt es zwei Gründe: Einerseits herrscht bereits jetzt großer Zeitdruck, die EU-Klimaziele bis 2030 zu erreichen. Andererseits ist die Umstellung auf CO2-freie Produktionsprozesse in bestimmten Grundstoffindustrien vor allem ein technologisches Problem. In Branchen wie der Stahlindustrie sind die notwendigen Alternativtechnologien einfach (noch) nicht verfügbar. Die mittels CBAM und ETS erzielten Einnahmen sollten daher für Fonds zur Erforschung und Förderung fundamental neuer Technologien (break-through technologies) sowie ressourcen- und energiesparender Produktionsmethoden zweckgewidmet werden. Hierfür könnte etwa der aufgrund der Einigung am 18. Dezember mit ca. 40 Mrd. Euro dotierte Innovation Fund weiter ausgebaut und Technologieforschung im Rahmen anderer EU-Forschungsprogramme wie z.B. Horizon Europe unterstützt werden.
Wie Kohärenz für globale nachhaltige Entwicklung herstellen?
Last but not least stellt sich die Frage, wie etwaige negative Effekte des CBAM als unilateraler EU-Maßnahme auf Drittstaaten unterbunden werden können. Schließlich werden die Ausfuhren von Exporteuren, nicht zuletzt aus dem globalen Süden, in die EU dadurch teurer. Aufgrund der während der letzten Jahrzehnte erfolgten Auslagerung stark verschmutzender Produktionsprozesse von Europa in die Länder des Globalen Südens besteht diesbezüglich eine Verantwortung, der sich die EU stellen wird müssen. Dazu gibt es zwei wesentliche Lösungsansätze: Zum einen könnten aus den CBAM-Einnahmen Kompensationszahlungen an betroffene Länder geleistet werden. Zwar ist dies in der inter-institutionellen Vereinbarung vom 12. Dezember grundsätzlich vorgesehen, der diesbezügliche Passus bleibt aber vage. Zum anderen könnte die EU neue, emissions- und energiesparende Innovationen per Technologietransfer auch den Ländern des Globalen Südens zur Verfügung stellen, um die dortige Grundstoffproduktion auf den aktuellsten Stand der Technik zu bringen. Dies ist derzeit nicht explizit vorgesehen. Man muss daher kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass der CBAM zu internationalem Widerstand und zu WTO-Streitigkeiten führen wird.
Dr. Werner Raza ist Leiter der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE)
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