Aktueller Kommentar Februar 2021

COVID-19 und die „vernachlässigten Krankheiten“: Zeit für einen Politikwechsel!

Die Debatte um den mangelnden Zugang zu COVID-19 Impfstoffen für die Länder des Globalen Südens reiht sich ein in eine lange Geschichte des Kampfs um effektive und leistbare Behandlungen für jene mehrere Dutzend Krankheiten, die das bezeichnende Adjektiv „vernachlässigt“ tragen. Das in den letzten 25 Jahren zentral um den Schutz sogenannter geistiger Eigentumsrechte (IPR) herum aufgebaute pharmazeutische Innovationssystem hat hier breitflächig versagt. Die COVID-19-Pandemie sollte deshalb für eine grundlegende Reform genutzt werden.

Von Werner Raza (ÖFSE), Februar 2021

COVID-19 wird bekanntlich durch das Virus SARS-COV-2 ausgelöst und gehört damit zur Gruppe der neuen Infektionserkrankungen, die seit dem ersten Ausbruch einer SARS-Epidemie im Jahr 2002 bislang hauptsächlich in Schwellen- und „Entwicklungsländern" aufgetreten sind. Zwar waren davon – wie im Fall zahlreicher weiterer Krankheiten der letzten Jahrzehnte – teils Milliarden von Menschen betroffen. Doch erst seit COVID-19 zur globalen Pandemie wurde und sich gravierend auf die Gesellschaften der OECD-Länder und ihre volkswirtschaftlichen Systeme auswirkt, wird einer solchen Krankheit jene gesundheitspolitische Aufmerksamkeit zuteil, die der Globale Süden in vielen anderen Fällen seit langem schmerzlich vermisst.

Dieser Kommentar zeigt auf, wie verschwindend gering der Anteil an pharmazeutischen Forschungs- und Entwicklungsgeldern für jene Krankheiten ist, die vor allem in den Ländern des Globalen Südens auftreten. Das gilt für den öffentlichen Sektor, noch viel mehr aber für die Pharmaindustrie. Kein Wunder also, dass dafür der Begriff „vernachlässigte Krankheiten“ (neglected diseases, ND) verwendet wird.

Vernachlässigte Krankheiten: wenig Forschung und geringe Fortschritte

Diese „neglected diseases“ (ND) sind eine seit Jahrzehnten bestehende Baustelle der globalen Gesundheitspolitik.  In den Ländern des Globalen Südens fordern sie jährlich hunderttausende Tote und Millionen von Erkrankungen, oft mit gravierenden gesundheitlichen Langzeitfolgen für die Betroffenen.Je nach Definition umfassen die ND mehrere Dutzend Krankheiten. Dazu werden mitunter auch die sogenannten “Großen Drei” HIV/AIDS, Malaria, und Tuberkulose gezählt, aber vor allem auch die vernachlässigten tropischen Krankheiten (neglected tropical diseases), darunter Chagas, Dengue Fieber und Leishmaniose, sowie andere armutsbezogene Krankheiten.

Eine in der renommierten Zeitschrift The Lancet erschienene Studie zeigt, dass die medizinischen Fortschritte zur Behandlungen dieser Krankheiten nur sehr langsam voranschreiten. Von 1975 bis 1999 dienten nur 1,1% aller global zugelassenen therapeutischen Produkte der Behandlung von ND. Im Zeitraum von 2000 bis 2011 wiesen von 850 neuen therapeutischen Produkten nur 37 (4%) Indikationen für ND auf, davon 25 Produkte mit einer neuen Indikation und acht Impfstoffe bzw. biologische Wirkstoffe. Nur vier chemische Wirkstoffe wurden für ND zugelassen (drei für Malaria, einer für Diarrhoe), das entspricht 1% der 336 zugelassenen chemischen Wirkstoffe. Von 148.445 bis Ende 2011 durchgeführten klinischen Tests entfielen nur 2016 (1%) auf ND.

Seit den frühen 2000er Jahren hat sich die Situation somit zwar leicht verbessert und es konnten zum Beispiel nach langem Kampf für günstige Behandlungen gegen HIV/AIDS auch Erfolge erzielt werden. Angesichts des Umfangs und der Schwere der Betroffenheit bleiben die Forschungs- und Entwicklungsbemühungen mit jährlich rund USD 4 Mrd. (2018) bzw. rund 2% der gesamten Forschungs- und Entwicklungsausgaben (F&E ) des globalen Pharmasektors jedoch weit hinter dem Nötigen zurück. Ein näherer Blick auf die für ND aufgewendeten F&E Mittel zeigt, dass die Mittel dafür im letzten Jahrzehnt kaum gestiegen sind. Zudem ist es ganz überwiegend der öffentliche Sektor – und hier vor allem US-amerikanische Fördereinrichtungen - der sich in der ND-Forschung engagiert. Der Anteil der Industriegelder betrug im Jahr 2018 nur 17%, während zwei philanthropische Stiftungen (Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung, Wellcome Trust) ebenfalls für rund 17% der Mittel aufkamen (siehe Abbildung 1).

Grafik: Finanzierungsquellen für vernachlässigte Krankheiten, 2009 - 2018

Abbildung 1: Finanzierungsquellen für vernachlässigte Krankheiten, 2009 - 2018
Quelle: G-FINDER Project 2019, Global Funding of Innovation for Neglected Diseases, Policy Cures Research, https://s3-ap-southeast-2.amazonaws.com/policy-cures-website-assets/app/uploads/2020/02/07161934/GF-6pSummary2019.pdf

Besorgniserregend ist zudem, dass es keine Steigerung bei den Forschungsmitteln für die vernachlässigten tropischen Krankheiten gegeben hat. Tatsächlich sind die Mittel sogar gefallen und lagen 2018 um fast 10% unter dem Niveau von 2009. Auch wenn die Aufwendungen der Pharmaindustrie für Forschung und Entwicklung (F&E) in diesem Bereich in den letzten Jahren gestiegen sind, betrug ihr Anteil im Jahr 2018 lediglich 16% an den gesamten Forschungsmitteln. Und auch hier kommt die große Mehrheit der Gelder aus öffentlichen - und abermals vornehmlich US-amerikanischen – Einrichtungen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten sind kaum in diesem Bereich engagiert (siehe Abbildung 2).

Grafik: F&E-Gelder für ND, nach Kategorien

Abbildung 2: F&E-Gelder für ND, nach Kategorien
Quelle: G-FINDER Project 2019, Global Funding of Innovation for Neglected Diseases, Policy Cures Research, https://s3-ap-southeast-2.amazonaws.com/policy-cures-website-assets/app/uploads/2020/02/07161934/GF-6pSummary2019.pdf

Ein ähnliches Bild zeigt sich auch für die Kategorie der „emerging infectious diseases“. Darunter fallen von viralen Erregern ausgelöste neue Infektionskrankheiten wie Ebola, Zika, Lassafieber, aber auch durch Coronaviren verursachte Erkrankungen wie MERS und SARS sowie COVID-19. Zwar sind hier die F&E-Ausgaben seit 2015 deutlich gestiegen, bleiben aber mit rund USD 1 Mrd. (2018) bescheiden. Einmal mehr kommt das Gros der Gelder (85%) aus öffentlichen Töpfen. Das Engagement der Pharmaindustrie weist in diesem Zeitraum einen stark sinkenden Trend auf und lag 2018 bei lediglich 8% der Gesamtausgaben. Philanthropische Einrichtungen wie insbesondere die Bill-und-Melinda-Gates-Stiftung kamen für rund 6% der Ausgaben auf (siehe Abbildung 3).

Grafik: F&E-Ausgaben für „emerging infectious diseases“, nach Förderertyp (2014 – 2018)

Abbildung 3: F&E-Ausgaben für „emerging infectious diseases“, nach Förderertyp (2014 – 2018)
Quelle: G-FINDER (2020): Landscape of emerging infectious disease research and development: preventing the next pandemic, Policy Cures Research, https://s3-ap-southeast-2.amazonaws.com/policy-cures-website-assets/app/uploads/2020/10/30095357/EID_Report.pdf

Im Gefolge des Ebola-Ausbruchs 2014 in Westafrika bzw. der Zika-Epidemie 2015 in Lateinamerika war eine starke Zunahme der F&E-Ausgaben für diese beiden Erkrankungen zu verzeichnen. Die Ausgaben dafür machten zwischen 2014 und2018 rund 40% der eingesetzten Gelder aus. Obwohl es erste SARS-Ausbrüche bereits in den frühen 2000er Jahren, dann wiederauftretende Ausbrüche auch neuer Virenstämme (z.B. MERS ab 2012), ohne dass es eine effektive Therapie gegeben hätte, wurde die Forschung zu Coronaviren vernachlässigt. Die geringen dafür aufgewendeten Mittel beliefen sich auf einen Anteil von nur 4,6% der F&E-Ausgaben für „emerging infectious diseases“. Und sie kamen einmal mehr aus öffentlichen Töpfen, mit keiner nennenswerten Forschungsanstrengung auf Seiten der Pharmafirmen (siehe Abbildung 4) – ein wie wir heute wissen folgenschweres Versäumnis.

Grafik: : F&E-Ausgaben für „emerging infectious diseases“, nach Krankheit/F&E Bereich (2014 – 2018)

Abbildung 4: F&E-Ausgaben für „emerging infectious diseases“, nach Krankheit/F&E Bereich (2014 – 2018)
Quelle: G-FINDER (2020): Landscape of emerging infectious disease research and development: preventing the next pandemic, Policy Cures Research, https://s3-ap-southeast-2.amazonaws.com/policy-cures-website-assets/app/uploads/2020/10/30095357/EID_Report.pdf

Wir halten also fest: Die Forschungsausgaben für Krankheiten, welche große Bevölkerungsgruppen im Globalen Süden betreffen und für die ein klarer gesundheitspolitischer Bedarf besteht, sind insgesamt gering und werden ganz überwiegend von öffentlichen und zu einem geringeren Teil von philanthropischen Einrichtungen finanziert. Jedwede Verbesserung, die es hier in den letzten zwei Jahrzehnten gegeben hat, verdankt sich primär öffentlich finanzierter Forschung und Entwicklung und dem Einsatz von Stiftungen. Mangels kaufkräftiger Nachfrage in den Ländern des Globalen Südens, sowohl auf Seiten der Bevölkerung als auch auf Seiten der meisten Regierungen, ist das F&E-Engagement der privaten Pharmaindustrie bei diesen Krankheiten sehr beschränkt. Von Ausnahmen bei den „big three“ abgesehen, konnte keine grundlegende Verbesserung der Lage bei den vielen anderen Erkrankungen erzielt werden. Offenbar hat die seit 1995 laufende Durchsetzung hoher IPR Schutzstandards durch das WTO-TRIPS-Abkommen im Globalen Süden dazu keinen Beitrag geleistet.

Fazit: COVID-19-Krise für eine grundlegende Reform des pharmazeutischen Innovationssystems nutzen

Eine wesentliche Lehre aus der COVID-19-Pandemie besteht darin, dass wenn der politische Problemdruck groß genug ist, pharmazeutische Innovation durchaus rasch und erfolgreich passieren kann. Das lässt vermuten, dass die sich dahinschleppende medizinische Innovation bei den vernachlässigten Krankheiten durchaus schneller voranschreiten könnte, wenn dafür geeignete Forschungsinfrastrukturen auf- und ausgebaut würden. Die derzeitige Krisensituation sollte daher für eine Reform des pharmazeutischen Innovationssystems genutzt werden, welche die gravierenden Versäumnisse der letzten Jahrzehnte behebt.

Dafür braucht es nicht nur ein stärkeres finanzielles Engagement der EU, das bislang die öffentliche Forschungsfinanzierung bei den ND und neuen Infektionskrankheiten weitgehend den USA überlassen hat, sondern auch einen größeren Beitrag der Pharmaindustrie. Diese hat in den letzten zwei Jahrzehnten massiv von der Durchsetzung strikter Standards beim Schutz geistigen Eigentums (IPR) im Globalen Süden profitiert und gehört zu den Branchen mit der höchsten Profitabilität. Gleichzeitig gibt es ein anhaltendes Marktversagen in der Entwicklung von Therapien für vernachlässigte und neue (Infektions-)Krankheiten, von denen Millionen Menschen im Globalen Süden betroffen sind.

IPR Schutzstandards sollten daher als das erkannt werden, was sie sind: Von der Gesellschaft eingeräumte Privilegien, für die Inhaber/innen eine Gegenleistung zu erbringen haben. Dieser Sozialpflichtigkeit kann auf unterschiedliche Weise Genüge getan werden. Denkbar wären etwa (i) mit der Zuerkennung von IPR-Schutzstandards verbundene Auflagen zur Forschung an vernachlässigten Krankheiten, (ii) Verpflichtungen zur Lizensierung von für die Bekämpfung von für ND relevanten Technologien, oder (iii) eine am Umsatz mit patentgeschützten Medikamenten bemessene Abgabe für Pharmaunternehmen, deren Erlös in einen von der WHO verwalteten Fonds fließt, mit dem Forschung und Entwicklung zu ND finanziert wird. Solche Maßnahmen wären zumindest erste Schritte in Richtung eines pharmazeutischen Innovationssystems, das Gesundheit als globales öffentliches Gut wirklich ernst nimmt - ganz im Sinne von Ziel 3 (SDG 3) der Sustainable Development Goals der Vereinten Nationen.

Dr. Werner Raza ist Leiter der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE)
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