Aktueller Kommentar Juni 2023

Die Handelspolitik der Zukunft: weder neoliberal noch geopolitisch, sondern solidarisch!

Werner Raza

Die Epoche des ungebändigten Freihandels ist zurecht vorbei. Die neuen Schlagwörter lauten De-coupling/de-risking, strategische Autonomie und Technologiesouveränität. Die Konsequenzen der geopolitischen Zeitenwende sind noch nicht vollständig absehbar. Besorgniserregend ist aber die Erosion internationaler Zusammenarbeit angesichts existentieller Herausforderung. Vieles spricht dafür, dass wir anknüpfend an die Diskussion der 1960/70er-Jahre eine um die ökologische Dimension erweiterte und solidarische Neue Weltwirtschaftsordnung 2.0 benötigen.

Von Werner Raza (ÖFSE), Juni 2023

Götterdämmerung der Hyperglobalisierung

Die Bilanz von mehr als drei Jahrzehnten einer globalen Wirtschaftsentwicklung auf Basis der Prinzipien des Washington Consensus fällt nüchtern aus. Ungebändigter Freihandel, Liberalisierung von (Finanz-)Märkten und Preisen, Privatisierung öffentlicher Unternehmen, Deregulierung von Arbeitsmärkten gepaart mit einer Politik der fiskalischen Austerität und des Sozialabbaus haben zu mannigfachen strukturellen Verwerfungen und Krisen geführt. Wir bewegen uns derzeit in eine neue Epoche, deren Kontouren erst sichtbar werden. Ausgangspunkt der folgenden Standortbestimmung sind vier Paradoxa, deren Verständnis fundamental für die inhaltliche Ausrichtung der Handelspolitik in Zukunft sein wird.

Globalisierungsparadox I – Mehr Handel ≠ mehr demokratischer Wandel

Der bekannte Grundsatz der liberalen politischen Philosophie des doux commerce hat sich nicht bewahrheitet, weder in der Variante des „Wandels durch Handel“, noch in der Variante der Förderung der internationalen Zusammenarbeit (siehe nächster Abschnitt). Hinter „Wandel durch Handel“ steht die Überlegung, dass Handel nicht nur wohlstandsfördernd ist, sondern in den beteiligten Ländern demokratiefördernd wirkt. In bereits demokratischen Ländern stabilisiert er durch seine positiven Wohlstandseffekte die liberale Demokratie, in autoritären Ländern lernen die Menschen andere Kulturen kennen und schätzen, und üben schließlich Druck in Richtung eines politischen Systemwandels hin zur Demokratie aus. Diese Hypothese ist sowohl für liberal-demokratische als auch für autokratische Länder durch die Entwicklung der letzten drei Jahrzehnte nicht bestätigt worden. Die größten Profiteure der Hyperglobalisierung in den liberalen Demokratien war die globale Klasse der Superreichen (die Top 0,01% der globalen Einkommens- und Vermögensverteilung). Ihren massiv steigenden Reichtum – der Vermögensforscher Martin Schürz spricht von Überreichtum – nutzt diese globale Elite nicht nur für immer bizarrer werdenden und völlig unökologischen Luxuskonsum, sondern vor allem auch um ihren Einfluss auf die Politik zulasten einer egalitäreren und sich an den Bedürfnissen der Bevölkerungsmehrheiten orientierten Politik auszubauen. Demgegenüber steht eine Mittelschicht in den OECD Staaten, wo sich die Einkommens- und Vermögensposition vor allem der weniger qualifizierten Menschen deutlich verschlechtert hat. Dafür verantwortlich sind vor allem stagnierende Löhne aufgrund der qua Hyperglobalisierung erfolgten Verlagerung vor allem niedrig qualifizierter Arbeit in den Globalen Süden, der erodierenden Verhandlungsmacht der Gewerkschaften, die Schaffung von Niedriglohnsektoren und die Zunahme atypischer und prekärer Beschäftigungsformen. In Kombination mit dem Abbau von wohlfahrtstaatlichen Leistungen bildet dies die Grundlage für den politischen Aufstieg des autoritären Nationalismus in den USA und in Europa. Die Zunahme illiberaler Regime (z.B. in Ungarn und Polen) bildet nur die Spitze des Eisberges einer sich in vielen Ländern verschlechternden demokratischen Qualität.

Die grundsätzlich richtige Beobachtung, dass in China und anderen Schwellenländern eine neue, ökonomisch aufstrebende Mittelschicht entstanden ist, sowie der Rückgang der unter der Armutsschwelle lebenden Menschen bis zur Corona Pandemie auf rund 10% der Weltbevölkerung mit Schwerpunkt auf dem afrikanischen Kontinent, können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die ökonomische Stellung des unteren Viertels der Weltbevölkerung (rund 2 Mrd. Menschen) nach wie vor miserabel und von starker Verwundbarkeit im Krisenfall geprägt ist. Der Aufstieg von relativ gut ausgebildeten, jungen und städtischen Mittelschichten hat aber – zumindest bislang – nicht zu Demokratisierungsprozessen in den meisten Schwellenländern geführt. Der politische Fokus liegt auf Ausbau des materiellen Wohlstands in Kombination mit mehr oder wenig stark ausgeprägter Repression. Dies hat im Endeffekt zu einer Konsolidierung staatskapitalistischer Modelle beigetragen.

Globalisierungsparadox II – Mehr Handel ≠ mehr internationale Zusammenarbeit

Die in der These vom doux commerce zum Ausdruck kommende Hoffnung der zivilisierenden Wirkung des internationalen Handels auf die zwischenstaatlichen Beziehungen hat sich auch nicht bestätigt. Im Gegenteil, die Mechanismen der Global Governance haben keine entscheidenden Veränderungen hin zu effektiverer internationaler Politik und zur gemeinsamen Bewältigung globaler Problemlagen gebracht. Am deutlichsten wird das in der Klimafrage, wo die internationale Politik der viel zu langsame Fortschritte gezeitigt hat. Die Krise der internationalen Zusammenarbeit betrifft aber viele weitere Politikbereiche, etwa die globale Gesundheitspolitik, wie während der Corona Pandemie deutlich geworden ist.

Last but not least, hat die von USA und EU gewollte Hyperglobalisierung zu einer Strukturverschiebung in der Weltwirtschaft beigetragen, die allen nun auf den Kopf fällt. Durch den ökonomisch und damit einhergehenden politischen Aufstieg Chinas, und in deren Gefolge anderer Schwellenländer wie Indien, Brasilien, Türkei etc., sehen sich die alten kapitalistischen Zentren, vor allem die USA und Europa, in ihrer führenden Rolle herausgefordert. Letztere reagieren darauf mit einer Hinwendung zu einer geopolitischen Handelspolitik, das heißt die Unterordnung letzterer unter die Ziele nationaler Sicherheit. Als für die nationale Sicherheit wichtig angesehene Wirtschaftszweige werden ins Inland zurückgeholt bzw. die nationale Produktion wird ausgebaut (Re- bzw. Onshoring), und die Ausfuhr militärisch wertvoller Hochtechnologiebereiche an als strategische Rivalen eingestufte Länder wird unterbunden (de-coupling bzw. de-risking). Nicht mehr Freihandel, Ausweitung des Marktzugangs und Abbau regulatorischer Handelshemmnisse, sondern strategische Autonomie, Technologiesouveränität und Stärkung der heimischen Industrie durch massive Subventionsprogramme sind die neuen Leitbilder der Handelspolitik. Neben den USA als Protagonistin, setzt sich diese Politik auch in der EU zunehmend durch.

Im Ergebnis befinden wir uns heute in der paradoxen Situation, dass in einer Zeit, wo globale Zusammenarbeit dringend notwendig wäre, genau diese in der Krise steckt. Bestehende internationale Einrichtungen wie die Welthandelsorganisation (WTO) werden gerade von der Führungsmacht USA beiseitegeschoben, und der Blick auf die eigenen sicherheitspolitischen Ziele macht politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit mit anderen Staaten zunehmend unmöglich, zumal wenn offiziell zwischen „Freunden/Alliierten“ und „Rivalen“, zwischen liberalen, menschenrechtsbasierten Demokratien und autoritären Regimen unterschieden wird. Diese offensiv vorgebrachte Unterscheidung erschwert nicht nur internationale Kooperation, sondern wird im globalen Süden als anmaßend und neokolonial empfunden.

Globalisierungsparadox III – Mehr Handel ≠ mehr Versorgungssicherheit

Dass wirtschaftliche Verflechtung im Krisenfall auch Versorgungsprobleme mit sich bringen kann, hat schließlich die Corona Pandemie Politik und Öffentlichkeit eindrücklich vor Augen geführt. Wenig diversifizierter Außenhandel und auf wenige Länder beschränkte Importe bei lebensnotwendigen Gütern wie Pharmazeutika oder Lebensmittel führen zu Abhängigkeiten, die schlagend werden, wenn im Krisenfall die Produzentenländer die Versorgung der eigenen Bevölkerung priorisieren, oder es schlicht zu Unterbrechungen bei Logistik und Transport kommt. Die Abhängigkeit kann schließlich auch für politische Zwecke instrumentalisiert werden (weaponized interdependence). So nutzen etwa die US seit langem die Bedeutung des US-Dollars und des US Finanzmarkts für den internationalen Zahlungsverkehr, um effektive Sanktionsmaßnahmen (etwa gegen den Iran, gegen EU Unternehmen, oder jüngst gegen Russland) zu verhängen. In einer Situation steigender internationaler Spannungen sind Regierungen zunehmend versucht, bestehende Abhängigkeiten für ihre politischen Ziele einzusetzen. Nicht zuletzt die hohe Abhängigkeit von China bei den für die grüne Wende zentralen Rohstoffen führt derzeit bei EU Politiker*innen zu Sorgenfalten.

Globalisierungsparadox IV – Dekarbonisierung im Norden braucht mehr Rohstoffe aus dem Süden

Die Geopolitisierung der Handelspolitik hat zu einer Renaissance industriepolitischer Maßnahmen geführt, gerade vor dem Hintergrund der beiden großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts – der Digitalisierung und der Dekarbonisierung. Beide Herausforderungen müssen nicht nur vor dem Hintergrund des Ausstiegs aus fossilen Rohstoffen bewältigt werden, sondern benötigen auf der anderen Seite große Mengen an anderen, sog. kritischen Rohstoffen (v.a. bestimmte Metalle wie Lithium, Cobalt oder seltene Erden). Die Versorgungssicherheit der eigenen Wirtschaft mit (erneuerbarer) Energie und den für die Digitalisierung und Dekarbonisierung nötigen Rohstoffen erlangt angesichts der sich zuspitzenden geopolitischen Rivalitäten vor allem auch eine sicherheitspolitische Bedeutung. Die vierte Paradoxie, mit der wir daher heute konfrontiert sind, besteht in dem Umstand, dass die Klima- und Umweltkrise uns dazu zwingt, die CO2-Emissionen bis 2050 auf Netto-Null und unseren (fossilen) Energie- und Materialverbrauch drastisch zu reduzieren, wir dafür aber in den nächsten Jahrzehnten um ein Vielfaches mehr an kritischen Rohstoffen benötigen werden. Die Vorkommen dieser Rohstoffe befinden sich überwiegend im Globalen Süden – vor allem in Afrika und Lateinamerika. Damit droht in diesen Ländern eine Vertiefung des schon seit der Kolonialzeit bestehenden extraktiven Wirtschaftsmodells, das auf der Ausbeutung und dem Export von nicht weiterverarbeiteten Rohstoffen basiert. Die damit verbundene ökonomische Wertschöpfung in den Ländern ist gering, die sozialen Kosten für die heimische und oft indigene Bevölkerung wie auch die durch den Abbau verursachte Naturzerstörung, vielfach in ökologisch wertvollen Räumen wie dem Amazonas Regenwald, sind hingegen schwerwiegend. Für die angestrebte grüne Wende brauchen die EU und andere Industrieländer jedoch den Zugang zu diesen Rohstoffen im Globalen Süden und befinden sich in einem Wettlauf mit China und anderen Schwellenländern. Zugleich wollen sie aber aus sicherheits- und auch wettbewerbspolitischen Überlegungen deren Weiterverarbeitung zu technologisch hochwertigen Produkten vornehmlich im eigenen Land bewerkstelligen. Dekarbonisierung im globalen Norden führt also absehbar zur Vertiefung der Ressourcenausbeutung im globalen Süden und damit zur Perpetuierung von jahrhundertealten Abhängigkeitsstrukturen. Dieser grüne Extraktivismus stößt zunehmend auf den politischen Widerstand des globalen Südens.

Fazit: Es braucht eine Neue Weltwirtschaftsordnung 2.0

Die vier geschilderten Paradoxa illustrieren wie umfassend und komplex die aktuellen Herausforderungen sind, bei gleichzeitig besorgniserregender Zunahme internationaler Spannungen. Die europäische wie auch internationale Handelspolitik sind vor allem gefordert, neue Formen der internationalen Zusammenarbeit in bewusster Abgrenzung zur Geopolitisierung der Handelspolitik zu finden. Diese müssen solidarisch sein und sich an den Bedürfnissen des jeweils schwächeren Partners orientieren. Die Diskussionen rund um die Neue Weltwirtschaftsordnung der 1960er- und 1970er-Jahre können dazu Ansatzpunkte liefern, auch wenn die heutige Situation vor allem in ökologischer Hinsicht unterschiedlich ist. Die ökologisch und auch aus Gründen der Versorgungssicherheit gebotene stärkere Regionalisierung von Produktionsnetzwerken sowohl in der EU als auch in anderen Weltregionen im Rahmen der sozial-ökologischen Transformation muss daher dringend um eine solidarische Agenda zur fairen Bewältigung der globalen Herausforderungen ergänzt werden. Die sich gerade herausbildende multipolare Welt bietet dafür durchaus Ansatzpunkte, nicht zuletzt angesichts des neuen Selbstbewusstseins eines sich politisch emanzipierenden Globalen Südens. Gerade Europa sollte die Chance nutzen, ein eigenes außen(wirtschafts-)politisches Profil im Dialog mit dem Globalen Süden zu entwickeln. Die handelspolitisch engagierte Zivilgesellschaft und die Wissenschaft sind gefordert, ihren Beitrag zur Gestaltung einer solchen Neuen Weltwirtschaftsordnung 2.0 zu leisten.

Dr. Werner Raza ist Leiter der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE). Mit Kooperationspartner*innen hat die ÖFSE von 23.-25. Juni die internationale Konferenz „The Future of Trade in a Multipolar World Order” organisiert. Mehr Informationen siehe HIER.