Aktueller Kommentar März 2022

Geo- oder friedenspolitische Sanktionen gegen Russland?

Joachim Becker

Die vom Westen verhängten Sanktionen gegen Russland sind in Umfang und Härte fast präzedenzlos. Dass die Sanktionen konfliktentschärfend wirken, muss allerdings bezweifelt werden. Aufgrund der Bedeutung Russlands als Rohstoffexporteur (v.a. Getreide, Erdöl) sind auch negative Auswirkungen auf die Länder des Globalen Süden zu erwarten. Es drohen Hungerrevolten und Verschuldungskrisen. Eine selektivere und friedensfördernde Sanktionspolitik ist dringend nötig.

Joachim Becker, März 2022

Westliche Sanktionen gegen Russland

Mit dem militärischen Angriff Russlands auf die Ukraine hat die Eskalation zwischen dem Westen, der auf eine Ausweitung seiner Einflusszone im post-sowjetischen Raum setzt, und Russland eine neue Stufe erreicht. Auf den Angriff reagierten die westlichen Länder mit einem massiven Ausbau ihrer Wirtschaftssanktionen. Die Initiative bei der Sanktionspolitik liegt bei der US-Regierung, die EU-Länder folgen. In Einzelfragen, vor allem dem Gasimport, nehmen sie zum Teil eine etwas zurückhaltendere Position ein. Das gilt in erster Linie für die deutsche Bundesregierung. Die Sanktionen betreffen vor allem den Handel und den Finanzsektor, aber auch spezifische Oligarchen und Politiker sowie Bereiche wie den Flugverkehr. Aufgrund des eskalierenden Konfliktes ziehen sich zunehmend westliche Firmen aus Russland zurück.

Besonders schwerwiegend und rasch wirkend sind die Finanzsanktionen. Ein Teil der russischen Banken ist aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT ausgeschlossen worden. Allerdings ist diese Maßnahme derzeit noch so zugeschnitten, dass die westlichen, vor allem westeuropäischen Energieimporte aus Russland weiter bezahlt werden können. Der internationale Zahlungsverkehr Russlands wird durch die Maßnahme empfindlich gestört. Eine extrem weitgehende Maßnahme ist das Einfrieren der Devisenreserven der russischen Zentralbank in den westlichen Ländern. Damit sind die Möglichkeiten der russischen Zentralbank, den Rubelkurs zu stabilisieren und auf Devisenreserven für die Finanzierung von Importen zurückzugreifen deutlich beschnitten worden. Der Rubelkurs gab stark nach. Allerdings hatte die russische Regierung mit der Eskalation um die Ukraine im Jahr 2014 und die darauf folgende Verhängung erster westlicher Sanktionen das russische Finanzsystem unabhängiger vom Ausland und speziell von den USA gemacht. Es wurde ein eigenes Kreditkartensystem – Mir – eingeführt, so dass der inländische Zahlungsverkehr nicht von Visa und Mastercard abhängig ist. Der Rückzug von Mastercard und Visa trifft derzeit im Ausland lebende Russen, wegen des russischen Krieges und die damit einhergehende verschärfte Repression ins Ausland fliehende russische KriegsgegnerInnen sowie potenziell russische TouristInnen. Für den internationalen Zahlungsverkehr wird Russland wohl verstärkt auf das chinesische CIPS-System zurückgreifen, dass allerdings noch eine sehr begrenzte Reichweite hat. Den Dollaranteil bei den Devisenreserven hat China stark reduziert, allerdings steht der Euro an der Spitze. In Yuan wurden 2020 nur 13% der Devisenreserven gehalten. Durch die hohen Exportüberschüsse ist Russland weit weniger als andere Länder auf die Devisenreserven angewiesen.

Wichtige Sanktionen betreffen den Handel. Vor allem für Exporte bei Schlüsseltechnologien sind Verbote verhängt worden. Die russische Regierung hat in den letzten Jahren in einigen militärisch relevanten Bereichen sowie im agro-industriellen Sektor die Importabhängigkeit abgebaut, ist aber in bestimmten Hightech-Bereichen sehr importabhängig. Sehr einseitig auf Öl und Gas ist der russische Export ausgerichtet. Die USA haben ein Importverbot für russisches Öl und Flüssiggas verhängt. Für die USA spielen in diesem Bereich allerdings Importe aus Russland keine wesentliche Rolle. In der EU gibt es eine starke Debatte über ein Verbot von Gasimporten oder zumindest einer starken Minderung der Abhängigkeit von russischen Gasimporten. Laut einem Strategiepapier der EU-Kommission sollen die Gasimporte der EU aus Russland bis Ende 2022 um Zweidrittel abgebaut werden. Das scheint wenig realistisch – und wäre mit schweren Verwerfungen speziell in den EU-Ländern mit hoher Abhängigkeit von russischem Gas verbunden. Hier haben aufgrund der starken infrastrukturellen Verbindungen Sanktionen schwere Auswirkungen sowohl für Russland als auch für die EU, sind also ein zweischneidiges Schwert. Der Ölhandel ist leichter umzulenken.

Zurückhaltende Positionen im Globalen Süden

Die Sanktionspolitik wird von den westlichen Ländern betrieben. Die engsten westlichen Verbündeten in Ostasien – Japan, Südkorea und Singapur – haben sich angeschlossen. Es handelt sich nicht um globale, durch die UNO verhängte Sanktionen. Viele nicht-europäische Länder stehen zwar dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands ablehnend gegenüber, sehen diesen aber in einer auch von den westlichen Ländern betriebenen geopolitischen Eskalationspolitik im post-sowjetischen Raum und bewerten ihn als eine mit westlichen Angriffskriegen in nicht-europäischen Ländern, zum Beispiel dem Irak, vergleichbaren Völkerrechtsbruch. Der chinesische Außenminister Wang Yi spricht von westlicher „Doppelmoral“. Viele nicht-europäische Länder schließen sich den Sanktionen auch deshalb nicht an, weil die Wirtschaftsbeziehungen mit Russland für sie ein gewisses Gegengewicht zu den westlichen Ländern darstellen. Von strategischer Bedeutung im Umgang mit den Sanktionen wird für Russland die ökonomische Zusammenarbeit mit China sein. Mit symbolischen ökonomischen Maßnahmen hat allerdings auch China seine Distanz zur russischen Militärintervention markiert.

Die Logik geopolitischer Sanktionen

Die Frage ist, was die westlichen Länder mit den Sanktionen erreichen wollen. Einerseits kann das Ziel ein Regimewechsel in Russland oder zumindest die Ausschaltung des Landes als geopolitisch relevanter Kraft sein, andererseits die Entwicklung von Druck für eine möglichst rasche Beendigung des militärischen Konfliktes. Beim Ziel des Regimewechsels soll durch massive Sanktionen ein wirtschaftlicher und politischer Kollaps produziert werden. Da der Konflikteinsatz dadurch massiv erhöht wird, eskaliert dies die Kriegsdynamik. Sie führt auch oft innergesellschaftlich eher zu einer Schließung der Reihen. Eine solche Politik würde die Spielräume für zivilgesellschaftliche russische Kräfte, die gegen den Krieg sind und die bereits in den ersten Kriegstagen sichtbar wurden, tendenziell noch weiter mindern. Selbst in ökonomisch weit schwächeren Ländern als Russland, wie dem Iran oder Venezuela, ist die westliche, auf Regimewechsel gerichtete Sanktionspolitik gescheitert. Für eine rasche Beendigung des Krieges ist eine solche Politik kontraproduktiv.

Die Logik friedenspolitischer Sanktionen

Alternativ dazu gäbe es friedenspolitische Sanktionspolitik. Sie würde sich gegen den völkerrechtswidrigen Angriff Russlands und seine verheerenden menschlichen Folgen richten. Eine auf eine Abkürzung des Krieges gerichtete Politik würde nur selektive Sanktionen verhängen. Sie würden sich einerseits auf militärisch wichtige Hightech-Exporte und andererseits auf die politisch und ökonomisch zentrale Gruppe der Oligarchen (und deren Auslandsguthaben) konzentrieren. In einem solchen Fall würde auch bereits bei der Verabschiedung der Sanktionen festgelegt, dass diese mit dem Ende des Krieges auslaufen.

Die Zielrichtung der westlichen Sanktionen

Eine klare Zielbestimmung der Sanktionen haben weder die US-Regierung noch die Regierungen in den westlichen Ländern vorgenommen. Allerdings sind die Sanktionen sehr massiv und sind immer weiter eskaliert worden. Die Sanktionsverhängung ist zudem von einer militärischen Rhetorik begleitet. Der französische Wirtschaftsminister Bruno Le Maire verglich den Ausschluss aus dem SWIFT-System mit einer „finanziellen Atomwaffe“, woraufhin russische RegierungsvertreterInnen daran erinnerten, dass Russland eine Atommacht ist. NATO-Länder, speziell die USA, liefern auch Waffen an die Ukraine. Wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung anmerkte, bewegen sie sich hart an die Grenze, die sie zu einer direkten Kriegspartei machen würde. Die westliche Sanktionspolitik ist als geopolitisch, nicht als friedenspolitisch motiviert zu bewerten. Sie wirkt konfliktverschärfend und birgt das Risiko einer Konfliktausweitung mit einer Atommacht. Das ist brandgefährlich.

Rückwirkungen der Sanktionen auf Drittländer in der globalen Peripherie

Krieg und Sanktionspolitik haben allerdings nicht nur für Russland, die Ukraine und die sanktionsverhängenden westlichen Länder wirtschaftliche und soziale Konsequenzen. Der Krieg führt in der Ukraine in den Kriegsgebieten bereits jetzt zu Versorgungsproblemen und verhindert zumindest in großen Gebieten die Frühjahrsaussaat. Damit wird die Ukraine als Großexporteur bei einigen Nahrungsmitteln, beispielsweise Weizen, ausfallen. Einige Länder, speziell im Nahen Osten und Nordafrika, sind hochgradig von Getreideimporten aus der Ukraine abhängig. Oftmals ist Russland für sie eine weitere zentrale Bezugsquelle. Russland hat bereits erste Exportbeschränkungen bei landwirtschaftlichen Exporten verhängt. Weiters wird der Import aus Russland durch die Sanktionen zumindest in der finanziellen Abwicklung erschwert. Die Preise steigen in Erwartung von Produktions- und Lieferausfällen schon jetzt stark. Speziell in Nordafrika und im Nahen Osten drohen Hungerrevolten. Verschärft werden die wirtschaftlichen und sozialen Probleme in Ländern der Peripherie mit hoher Abhängigkeit von Energieimporten durch die stark steigenden Öl- und Gaspreise. Je stärker die Energiesanktionen der EU gegenüber Russland ausfallen und je rascher die EU-Länder auf Energiealternativen außerhalb Russlands umsteigen, umso stärker dürften die Preise steigen. Auch hier sind einige Länder im Nahen Osten bzw. Nordafrika wie Ägypten, Tunesien oder der Libanon besonders stark betroffen. Damit könnte die Sanktionspolitik gegenüber Russland recht bald innergesellschaftliche Konfliktpotenziale in einer anderen Nachbarregion der EU anfachen. Die Lieferalternativen im Nahen Osten, wie Saudi-Arabien, sind ihrerseits zum Teil in Angriffskriege in ihrer Region verstrickt.

Durch die COVID-19 Krise hat sich die Verschuldungssituation vieler Länder in der Peripherie verschärft. Zentrale nicht-ölexportierende Länder Nordafrika und des Nahen Ostens, aber auch mehrere postsowjetische Staaten, die in einigen Handelsbereichen mit Russland und/oder der Ukraine eng verbunden sind, weisen bereits jetzt eine kritische Verschuldungssituation auf. Ihnen droht mit der kriegs- und sanktionsbedingten Verteuerung von Energie- und Nahrungsmittelimporten eine Verschuldungskrise. Mit dem faktischen Ausschluss Russlands aus dem Zentralbankensystem ist die Abstimmung der Zentralbanken im Krisenfall deutlich geschwächt worden. Damit wird auch die Bewältigung von Finanzkrisen in einer zunehmend instabilen Situation erschwert. Die Anti-Kriseninfrastruktur im Finanzbereich ist geschwächt. Diese Sanktion ist für das globale Management von Finanzkrisen kontraproduktiv.

Fazit: Eine selektivere Sanktionspolitik ist dringend geboten

Die westliche Sanktionspolitik hat einige weit über die Region hinausgehenden Wirkungen, die soziale Konflikte verschärfen und ein globales wirtschaftliches Krisenmanagement erschweren. Eine Deeskalation bei der westlichen Sanktionspolitik ist dringend geboten. Sanktionen sollten selektiv sein und einer klaren friedenspolitischen Mission dienen. Weiters sollten für mittelbar durch die westliche Sanktionspolitik relativ stark betroffene Länder der Peripherie Stützungsmaßnahmen, speziell zur Sicherung der Nahrungsmittelversorgung, ergriffen werden.

Dr. Joachim Becker ist außerordentlicher Universitätsprofessor am Department für Volkswirtschaft der Wirtschaftsuniversität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind unter anderem Entwicklungsökonomie, sowie Regionale Integration und Desintegration. Seine regionalen Schwerpunkte umfassen die Türkei, Mercosur, Ost- und Südeuropa.