Aktueller Kommentar Mai 2019

Nach der Hyper-Globalisierung: Willkommen im Zeitalter der Geopolitik!

Das aus den 1930er Jahren stammende Projekt der neoliberalen Weltordnung, das den freien Handel und Kapitalverkehr durch starke internationale Institutionen absichern wollte, steht vor dem Scheitern. Ob es uns gefällt oder nicht, wir befinden uns wieder im Zeitalter der Geopolitik. Die Chance für die EU besteht in umfassender Regionalisierung, sozial-ökologischer Transformation und solidarischen internationalen Beziehungen.

Werner Raza (ÖFSE), Mai 2019

Der neoliberale Traum von der einen Weltwirtschaft

Den Zusammenbruch der Imperien von Österreich-Ungarn, Russland, und dem Ottomanischen Reich, sowie die Desintegration der Weltwirtschaft in den 1930er Jahren nach der Großen Depression erlebten Wirtschaftsliberale wie Ludwig von Mises und Friedrich A. Hayek als Schock. Im Verbund mit liberalen Mitstreitern wie Lionel Robbins und Wilhelm Röpke setzten sie sich Ende der 1930er Jahre das Ziel, die freie Weltwirtschaft wieder zu errichten. Dazu waren sie bereit, mit wichtigen Prämissen des klassischen Laissez-Faire Liberalismus zu brechen. Ihnen war klar, dass der freie Weltmarkt nicht von allein zurückkehren würde. Dafür brauchte es ein politisches Projekt mit dem Ziel, zentrale Grundpfeiler einer liberalen Weltordnung, vor allem den Schutz des Privateigentums und den freien Handels- und Kapitalverkehr, in internationales Recht zu gießen und dies durch die Selbstbindung der Nationalstaaten abzusichern. Dieser Plan basierte auf der Überzeugung, dass es zwei getrennte Ordnungen gab, nämlich den immer an ein bestimmtes Gebiet gebundenen Staat (Territorium) und die prinzipiell grenzenlose Wirtschaft (Dominium). Ludwig von Mises betonte, dass die Wirtschaft ihrer Natur nach global sei. Wirtschaftliche Grundprinzipien wie das Eigentumsrecht galten daher weltweit und mussten durch ein über der Souveränität von Staaten stehendes internationales Recht gewährleistet werden.

Vom Traum zur Umsetzung: die Hyper-Globalisierung seit 1990

Die Entwicklung nach Ende des 2. Weltkriegs verlief zunächst in eine andere Richtung. Die Bretton-Woods Architektur versuchte der Weltwirtschaft zwar einen stabilen Rahmen zu geben, basierte aber letztendlich auf dem Primat nationalstaatlicher Souveränität. Keynesianisches Konjunktur- und Beschäftigungsmanagement, der Ausbau der sozialen Sicherungssysteme und sozialpartnerschaftliche Arrangements zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften steigerten nationale Handlungsspielräume und zeitigten beträchtliche wirtschaftliche und soziale Fortschritte. Private Eigentumsrechte, der freie Kapitalverkehr oder Wettbewerbs- und Preismechanismen galten nicht unbeschränkt, sondern waren der sozialen Kontrolle unterworfen. Dieser „embedded liberalism“ (John Ruggie) kam erst mit den wirtschaftlichen Krisen der 1970er Jahre, das heißt mit dem Scheitern des Bretton-Woods Währungssystems fester Wechselkurse, den Ölpreiskrisen und den Stagflationsepisoden in der OECD-Welt, in die Kritik. Unterstützt durch die konservativen Regierungswechsel in Großbritannien (1979) und den USA (1980) formierte sich in den 1980er Jahren eine epistemic community, welche das Projekt der Wiederrichtung einer liberalen Weltordnung wieder vorantrieb. Zentrale Aspekte waren die Durchsetzung des freien Kapitalverkehrs, die Bewältigung von internationalen Schuldenkrisen durch drakonische Strukturanpassungsprogramme zulasten der Schuldnerländer im Globalen Süden, die Absicherung von Investorenrechten durch Investitionsabkommen mit internationaler privater Schiedsgerichtsbarkeit (derzeit rund 3.000 Abkommen), sowie der Aufbau einer zentralen und durchsetzungsfähigen Organisation zur Regulierung des internationalen Wirtschaftsverkehrs, der Welthandelsorganisation WTO. Deren Anspruch war es nicht bloß den Handel mit Waren, Agrargütern und Dienstleistungen zu regeln und Verstöße dagegen durch eine eigene internationale Schiedsgerichtsbarkeit zu sanktionieren. Ihre Agenda erstreckte sich darüber hinaus auf das Ziel einer tiefen Integration, d.h. des progressiven Abbaus bestehender nationaler Unterschiede in der regulatorischen Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft mit dem Ziel, die sprichwörtliche flat world des einen Kapitalismus für alle zu schaffen.

Dieses Projekt einer – in den Worten Dani Rodrik‘s – Hyper-Globalisierung trug in der Tat zur starken Vertiefung der wirtschaftlichen Verflechtung, vor allem durch den Aufbau globaler Wertschöpfungsketten, während der letzten dreißig Jahre bei. Seit den frühen 2000er Jahren stieß es aber zunehmend an die Grenze der ihre Souveränität verteidigenden Nationalstaaten. Das Scheitern der 2001 begonnenen WTO Doha Runde zeugt von diesem Konflikt. Nichtsdestotrotz war das Projekt – ganz wie von Hayek et al. schon 1939 intendiert – insofern erfolgreich, als durch die rechtlich abgesicherte Freiheit des Handels- und Kapitalverkehrs die Mobilität des Produktionsfaktors Kapital stark gesteigert werden konnte. Resultat waren intensivierter zwischenstaatlicher Steuerwettbewerb, Druck auf die sozialen Sicherungssysteme und fallende Lohnquoten. Die Kluft zwischen Reich und Arm ging vor allem in den OECD Ländern stark auseinander. Die Auswirkungen der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/08 waren daher paradox: zwar wurde das öffentliche Vertrauen in das Prosperitätsversprechen neoliberaler Hyper-Globalisierung nachhaltig erschüttert, gleichzeitig erwies sich der vor allem in der EU institutionell abgesicherte Kern neoliberaler Politik stark genug, um die Form der Krisenbewältigung zu bestimmen. Großzügige Stabilisierung des Banken- und Finanzsystems ging vor allem einher mit harter Austeritätspolitik für die Schuldner(länder). Oberstes Ziel der Wirtschaftspolitik blieb weiterhin die Steigerung der (externen) Wettbewerbsfähigkeit. Die Legitimitätskrise demokratischer Politik wurde durch die weitgehende Überwälzung der Kosten der Krise auf die breite Masse der Bevölkerung akzentuiert. Die klassischen Parteien der politischen Mitte, vor allem die Sozialdemokratie, mussten in den letzten zwei Jahrzehnten massive Stimmenverluste hinnehmen. Neben dem wachsenden Lager der NichtwählerInnen ist der steile Aufstieg des Rechtsnationalismus in den USA und Europa der sichtbarste Ausdruck der politischen Krise.

Der geplatzte Traum: zurück zur Geopolitik des 21. Jahrhunderts

Im Kern besteht das gegenwärtige Dilemma also darin, dass die Logik des entfesselten Weltmarkts mit den sozialen und politischen Grenzen demokratisch verfasster Politik kollidiert. Ähnlich wie von Karl Polanyi in seinem 1944 erschienenen Hauptwerk „The Great Transformation“ beschrieben, erfolgt auch heute auf den Aufstieg des hyper-globalisierten Weltmarkts eine Gegenbewegung. In die Fußstapfen des Faschismus der 1920/30er Jahre scheint heute der Rechtsnationalismus treten zu wollen. Polanyi argumentierte, dass auch progressive Auswege aus der Krise möglich wären und setzte seine Hoffnungen in den Sozialismus –freilich nicht in den real-existierenden, sondern eine vom Roten Wien der 1920er Jahre inspirierte demokratische Variante. Was sind also in der heutigen Situation die Handlungsmöglichkeiten? Die sozial-liberal geprägten Versuche der letzten drei Jahrzehnte, über Global Governance Mechanismen die Hyperglobalisierung stärker sozial- und umweltpolitisch zu gestalten, müssen als weitgehend gescheitert gelten. Global Governance setzt die Bereitschaft voraus, Souveränitätsrechte an eine übergeordnete Autorität abzugeben, welche die globalen Spielregeln durchsetzt. Alternativ braucht es eine Hegemonialmacht, die für die Durchsetzung sorgt. Beides erscheint bis auf weiteres illusorisch. Die USA sind dazu – auch ohne einen Präsidenten Donald Trump – offenbar nicht mehr bereit. Ebenso wenig China, das mit der Stabilisierung seines autoritären Kapitalismusmodells ringt und bis auf weiteres seine hegemonialen Ambitionen auf den Großraum Asien konzentriert. Die multipolare Welt des frühen 21. Jahrhunderts wird maßgeblich von der Interessenpolitik der miteinander in direkter Konkurrenz stehenden Großmächte USA und China geprägt werden. Die Großmächte werden versuchen, eigene Einflusssphären auszuweiten, Allianzen mit anderen regionalen Mächten und Ländern zu schmieden, und als Gegner empfundene Mächte zu schwächen.

…und Europa?

Trotz anderslautender Beteuerungen sinkt auch in der Europäischen Union die Bereitschaft, eine internationale Vorreiterrolle zu übernehmen. Die Handlungsfähigkeit der Union ist durch die unbewältigten Folgen der Eurokrise, den Brexit wie auch durch externe Spaltungsversuche seitens der USA, Chinas und Russlands deutlich geschwächt. Ob die EU es schafft, ihre Stellung als eigenständiger Pol zwischen den USA und China zu halten, wird nicht, wie von manchen konservativen Vordenkern befürwortet, von einer zentralisierten Außen- und Verteidigungspolitik samt europäischer Armee abhängen. Entscheidend dafür wird sein, ob es gelingt, die Attraktivität des europäischen Gesellschaftsmodells unter veränderten globalen Rahmenbedingungen zu erhalten. Dies kann nur durch einen neuen Regionalismus, das heißt die Vertiefung der politisch-ökonomischen Integration in Europa gelingen, allerdings auf Basis eines Modells positiver, d.h. sozial-inklusiver und demokratischer Integration. Der Abbau der territorialen wie sozialen Polarisierung in der EU muss mit einem gesamteuropäischen Projekt sozial-ökologischer Transformation verknüpft werden. Die bestehende ressourcenintensive Produktions- und Lebensweise muss fundamental umgebaut, gleichzeitig aber auch eine attraktive Lebensqualität für die breite Masse der Bevölkerung – ein Gutes Leben für Alle – in Zukunft gewährleistet werden. Die Herausforderungen dieses Projekts sind gewiss gewaltig. Sie sind aber weniger technischer oder finanzieller Natur, sondern haben primär mit (macht-)politischen Fragen und Zukunftsängsten zu tun. Zudem gilt es ideologische Barrieren zu überwinden, allen voran die in der gegenwärtigen Politik weitverbreitete Vorstellung, dass die Rückführung der öffentlichen Verschuldung in Europa oberste Priorität für die Wiederherstellung inter-generationaler Gerechtigkeit hätte. Wahr ist das Gegenteil. Zukünftige Generationen werden uns berechtigte Vorwürfe machen, wenn wir jetzt nicht entschlossen auf die Klima- und Umweltkrise mit einem massiven öffentlichen Investitionsprogramm zum weitreichenden Umbau unserer Produktions- und Lebensweise reagieren. Andernfalls erben unsere Enkel einen Planeten mit irreparablen Schäden, was ihre Möglichkeiten für ein Gutes Leben empfindlich einschränken wird.

Das heraufziehende Zeitalter der Geopolitik des 21. Jahrhunderts muss also für Europa nicht zwangsläufig eine Bedrohung darstellen. Nämlich dann nicht, wenn es gelingt, die alte soziale Frage mit der neuen ökologischen Frage in innovativer Weise zu verknüpfen. Im Bereich der EU Außenbeziehungen braucht es dafür eine Re-Definition der Prioritäten internationaler Zusammenarbeit. Statt weiterer Handelsliberalisierung, Deregulierung und Privatisierung muss es verstärkt um Kooperation zur Steuervermeidung, Finanzmarktregulierung, Klimapolitik und globale Armutsbekämpfung gehen. Last but not least, die ökologische Handelsbilanz der EU muss ausgeglichen werden, das heißt der übermäßige Import von Energie und Rohstoffen muss genauso wie der Export der ökologischen Kosten unserer „imperialen Lebensweise“ reduziert werden. Dafür braucht es solidarische internationale Zusammenarbeit auf Augenhöhe statt post-kolonialer Bevormundung. Auf dieser Basis wäre auch ein neuer Anfang in den für die Zukunft Europas wichtigen Beziehungen mit Afrika möglich.
 

Der Artikel beruht auf einem Beitrag zur Konferenz „Karl Polanyi for the 21st century“, die von 3.-5. Mai 2019 im C3 – Centrum für Internationale Entwicklung stattfand.
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Dr. Werner Raza ist Leiter der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE)
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