Aktueller Kommentar Mai 2021
Die richtigen Lehren aus der Corona Pandemie ziehen heißt: Gesundheit als globales öffentliches Gut denken!
Die Ankündigung der US-Regierung, die Gespräche in der WTO zu einem TRIPS-Waiver zu unterstützen, hat Bewegung in die internationale COVID-19 Krisenpolitik gebracht. Besonders die EU mit ihrer Blockadehaltung ist unter Zugzwang geraten. Die eilige Ankündigung, dass die EU den afrikanischen Ländern 1 Mrd. € für den Aufbau von pharmazeutischen Produktionskapazitäten zur Verfügung stellen wird, kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass nur strukturelle Veränderungen des globalen Gesundheitssystems nachhaltige Verbesserungen bringen können. Es gilt, jetzt die richtigen Lehren aus der COVID-19 Pandemie zu ziehen.
Von Werner Raza (ÖFSE), Mai 2021
US-Positionswechsel zum TRIPS Waiver führt zu neuer Dynamik
Vor dem Hintergrund von dramatischen COVID-19 Ausbrüchen in Brasilien und jüngst in Indien, einer stark ansteigenden globalen Mortalität mit rund 3.000.000 Toten (und Schätzungen, dass global bereits rund 8 Millionen Menschen COVID-19 zum Opfer gefallen sind), sowie weiterhin extrem niedrigen Durchimpfungsraten in den Ländern des globalen Südens hat die US-Regierung einen Positionswechsel vollzogen.[1] Am 5. Mai 2021 gab die US-Handelsbeauftragte Katherine Tai bekannt, dass die USA den Antrag von Indien und Südafrika vom Oktober 2020 bei der Welthandelsorganisation zur Aufnahme von Verhandlungen zur Aufhebung des Patentschutzes für SARS-CoV-2-Vakzine unterstützt. Damit unterstützen mittlerweile mehr als 100 Länder den Antrag. Blockiert wird er allerdings nach wie vor insbesondere von Ländern mit wichtigen Pharmaindustrien, darunter auch von EU-Mitgliedsstaaten wie Deutschland und Frankreich. Die nichtsdestotrotz unter Druck gekommene EU mobilisierte daraufhin kurzfristig zusätzliche Mittel für die Bekämpfung der Pandemie. Kommissionspräsidentin von der Leyen kündigte beim Global Health Summit am 21. Mai in Rom an, dass die EU Unterstützungsgelder von 1 Mrd. € für den Aufbau pharmazeutischer Produktionshubs in afrikanischen Ländern zur Verfügung stellen wird. Angesichts der enormen Importabhängigkeiten Afrikas bei Medikamenten, Impfstoffen und medizinischen Produkten ist dies zweifelsohne eine sinnvolle Maßnahme. Die Umsetzung bleibt allerdings abzuwarten.
Zum anderen wiederholten EU-PolitikerInnen ihren Vorbehalt, dass der Patentschutz nicht das zentrale Hindernis für die Produktion von mehr Impfstoff sei, sondern das mit dem komplexen Produktionsprozess verbundene Know-how, der Mangel aus ausgebildetem Personal, sowie Knappheiten bei benötigten Rohstoffen und Komponenten. Dass Impfstoffproduktion besonders anspruchsvoll ist und für den Aufbau von Produktionskapazitäten im Globalen Süden Technologietransfer und Kooperation mit bestehenden Impfstoffproduzenten notwendig sein wird, wird auch von den TRIPS-Waiver BefürworterInnen weithin geteilt. Der entscheidende Unterschied besteht eben darin, dass ohne Patentschutz für die derzeitigen Impfstoffproduzenten die Möglichkeit entfällt, Produktionsmengen zu verknappen und Preise hochzuhalten, bzw. langwierige Lizenzverhandlungen zu führen. Sie müssen eben davon ausgehen, dass früher oder später andere Produzenten ihre Impfstoffe auch produzieren und auf den Markt bringen. Um ihre Wettbewerbsvorteile in diesem neuen Umfeld zu halten, müssen sie daher stärker in Forschung & Entwicklung (F&E) investieren. Dies würde dafür sorgen, dass die hohen Gewinne der Pharmafirmen im Kontext von COVID-19 reinvestiert und nicht an Aktionäre ausgeschüttet würde.
Patentschutz als Innovationstreiber? Falschanzeige!
Als zweiter Vorbehalt wird sowohl von Pharmafirmen als auch von europäischer Politik weiterhin ins Treffen geführt, dass mangels Aussicht auf Gewinne die pharmazeutische Innovation ohne Patentschutz langfristigen Schaden nehmen würde. Doch die empirische Evidenz, dass erhöhter Patentschutz zu mehr Innovation führt und damit seine sozialen Kosten rechtfertigt, ist insgesamt erstaunlich dünn. In der wissenschaftlichen Literatur gibt es wenig Unterstützung dafür, dass höherer Patentschutz die Innovationsrate steigert, weder für die Pharmaindustrien noch gesamtwirtschaftlich gesehen. Zwar ist die Zahl der angemeldeten Patente über die vergangenen Jahrzehnte in den meisten Industrieländern massiv angestiegen – in den USA zum Beispiel um das Vierfache zwischen 1980 und 2010. Das hat aber weder auf die Ausgaben für Forschung und Entwicklung noch auf die gesamtwirtschaftliche Produktivität im gleichen Zeitraum einen positiven Effekt ausgeübt. Einige Studien fanden sogar einen statistisch signifikanten negativen Zusammenhang zwischen Patentschutz und Produktivitätswachstum heraus. Denn das Patentsystem führt unter anderem zu einem starken Anstieg der Rechtsstreitigkeiten und entsprechend der Transaktionskosten. Das entmutigt gerade kleinere Firmen und Start-Ups, was letztlich die technologische Innovation reduziert. Eine Studie schätzt die Kosten von Rechtsstreitigkeiten mit sogenannten Patenttrollen auf 29 Mrd. USD im Jahr 2011. Patenttrolle sind Firmen, die nur zum Zwecke der Anhäufung von Patenten und zur Durchsetzung von Patentrechten gegen Dritte gegründet werden, ohne jemals die Patente auch für produktive Zwecke einsetzen zu wollen. Vor allem große Unternehmen setzen Rechtsmittel strategisch gegen Konkurrenten ein, insbesondere auch gegen kleinere Firmen und Start-Ups. Letztere sind wesentlich öfter in Rechtsstreitigkeiten zu Patenten verwickelt als große Firmen. Dies hält vor allem kleinere Unternehmen davon ab, in Bereichen zu forschen, in denen die Patent-Konzentrationen (patent thickets) schon vergleichsweise hoch sind. Die F&E-Prozesse konkurrierender Firmen werden so erschwert und verteuert, da diese zuerst Lizenzen zur Verwendung von benötigten Technologien erwerben müssen. Diese und ähnliche Formen von rent-seekingbehaviour stellen aus ökonomischer Sicht Kosten ohne gesellschaftlichen Nutzen und damit eine Verschwendung dar.
Patentschutz führt zur Konzentration ökonomischer und politischer Macht
Ein wesentlicher Effekt der seit den 1970er-Jahren durchgesetzten Verschärfung des globalen Schutzes geistiger Eigentumsrechte war jedenfalls der durch dutzende Fusionen und Übernahmen bewirkte Konzentrationsprozess unter den großen Pharmaunternehmen. Es entstanden dabei global agierende börsennotierte Konzerne, deren Shareholder-Orientierung primär auf hohe Renditen für ihre AktionärInnen ausgerichtet ist. In der Tat gehören die Renditen der Pharmaindustrie in den OECD-Staaten kontinuierlich zu den höchsten im Vergleich aller Wirtschaftsbranchen. Eine aktuelle Studie zeigt zum Beispiel, dass 35 große Pharmafirmen im Zeitraum von 2000 bis 2018 mit 29,4 % ein um rund 10 %-Punkte höheres EBITDA7 erwirtschafteten als 357 im Aktienindex S&P 500 gelistete Unternehmen verschiedener anderer Branchen. Die wichtigsten Ausgabenposten für pharmazeutische Firmen sind Ausgaben für Werbung und Marketing. Diese sind mit rund 40 % durchschnittlich doppelt so hoch wie jene für F&E.
In der einschlägigen Fachliteratur wurde zudem wiederholt kritisiert, dass von den entsprechend nur bei rund 20 % liegenden F&E-Ausgaben der Löwenanteil in die Entwicklung sogenannter „Me-Too“-Medikamente fließt, also nur gering variierter Medikamente auf Basis bekannter Wirkstoffe ohne bzw. bestenfalls mit geringem zusätzlichen therapeutischen Wert. Studien schätzen, dass nur ein Viertel bis ein Drittel der F&E-Ausgaben der pharmazeutischen Unternehmen in die Entwicklung tatsächlich neuer Wirkstoffe gehen. Dementsprechend gering ist auch der Anteil neuartiger Substanzen bzw. Medikamente mit hohem therapeutischem Wert an der Gesamtzahl der behördlichen Zulassungen. Eine im British Medical Journal publizierte Studie kommt zu dem Schluss, dass nur rund 31 % der von den zuständigen US- und EU-Behörden im Zeitraum von 2007 bis 2017 zugelassenen neuen Medikamente von hohem therapeutischem Wert waren. Das entspricht in etwa dem Wert, zu dem andere Studien für verschiedene Zeiträume seit den 1980er-Jahren auch schon gekommen waren. Angesichts eines Anstiegs der gesamten F&E-Ausgaben der globalen pharmazeutischen Industrie von 2007 bis 2017 um rund 25 %, ist die Stagnation bei der Zulassung von neuartigen therapeutisch wertvollen Medikamenten ein Indiz für ein ineffektives Innovationssystem.
In der Tat finden die meisten echten Innovationen in Start-ups und kleinen Technologieunternehmen statt, werden massiv von der öffentlichen Hand gefördert und erfolgen oft in Kooperation mit Universitäten. Große Pharmakonzerne verwerten dann die Forschungsergebnisse oder daraus resultierende Behandlungen. Pharmazeutische Innovation passiert daher schon jetzt mit massiver staatlicher Unterstützung, wie nicht zuletzt die Forschung von Marianna Mazzucato und anderen gezeigt hat.
Kaum Forschung für „vernachlässigte Krankheiten“
Als Fazit bleibt, dass es keinen deutlichen Zusammenhang zwischen verstärktem Patentschutz und medizinischer Innovation zu geben scheint. Der Großteil der privaten F&E-Gelder fließt in redundante Forschung mit wenig gesundheitlichem Mehrwert. Jene Gelder, die tatsächlich für die Entwicklung neuer Therapien verwendet werden, fokussieren wenig überraschend auf Krankheitsbilder, die in den Ländern mit höherem Einkommensniveau überproportional auftreten und für die es daher einen kaufkräftigen Markt gibt.
Die Forschungsaufwendungen für jene Krankheiten, die in den Ländern des Globalen Südens hingegen überproportional auftreten, sind dagegen fast verschwindend klein. HIV/AIDS, Malaria und Tuberkulose, aber auch Chagas, Dengue Fieber, Leishmaniose und andere armutsbezogene Krankheiten fordern hier jährlich hunderttausende Tote und Millionen von Erkrankungen. Kein Wunder also, dass dafür der Begriff „vernachlässigte Krankheiten“ („neglected diseases“) verwendet wird und diese seit Jahrzehnten eine große Baustelle der globalen Gesundheitspolitik sind.
Eine in der renommierten Zeitschrift The Lancet erschienene Studie zeigt, dass von 1975 bis 1999 nur 1,1 % aller global approbierten therapeutischen Produkte für die Behandlungen solcher „vernachlässigter Krankheiten“ zugelassen wurden. Auch Coronaviren wurden dadurch lange vernachlässigt. Die geringen dafür aufgewendeten Mittel beliefen sich auf einen Anteil von nur 4,6 % der F&E-Ausgaben für „emerging infectious diseases“. Und sie kamen einmal mehr aus öffentlichen Töpfen, mit keiner nennenswerten Forschungsanstrengung auf Seiten der Pharmafirmen – ein wie wir heute wissen folgenschweres Versäumnis.
Umfassende Reform des pharmazeutischen Innovationssystems dringend nötig
Die globale Durchsetzung hoher Schutzstandards für geistige Eigentumsrechte seit 1995 durch das TRIPS-Abkommen der WTO hat die pharmazeutische Innovation für die große Zahl der vor allem den Globalen Süden treffenden „vernachlässigten Krankheiten“ nicht wirklich beschleunigt. Die COVID-19 Pandemie zeigt, dass an öffentlichen Gesundheitszielen orientierte pharmazeutische Innovation nur mit hohem politischem Druck und großzügiger öffentlicher Finanzierung schnell und erfolgreich passiert.
Eine nachhaltige Stärkung der pharmazeutischen Innovation zur Erreichung globaler Gesundheitsziele braucht daher eine Reform des globalen Schutzes geistiger Eigentumsrechte. In der akademischen Debatte wurden dazu eine ganze Reihe von Alternativen zum derzeitigen IPR-Schutzmodell vorgestellt, die vor allem auf der Entflechtung (delinkage) der F&E Ausgaben vom Verkaufsvolumen einer pharmazeutischen Behandlung beruhen. Zu solchen Alternativen ohne die Schattenseiten wirtschaftlich und politisch problematischer Monopolmacht zählen unter anderem Anreize durch öffentliche Wettbewerbe, wertorientierte Preisgestaltung, öffentliche Finanzierung der klinischen Forschung, sowie Produktentwicklungspartnerschaften (PEPs).
Die COVID-19 Pandemie ist jedenfalls eine once-in-a-lifetime Gelegenheit, die richtigen Lehren für die zukünftige Gestaltung von Gesundheit als globalem öffentlichen Gut zu ziehen.
Für mehr Infos zu diesem Thema siehe das ÖFSE Briefing Paper 32 sowie andere aktuelle Publikationen unter: https://www.oefse.at/forschung/covid-19-pandemie/
[1] Per Ende April waren weniger als 2 % der Bevölkerung Afrikas geimpft. Im Vergleich dazu hatten bereits 40 % der US-amerikanischen und rund 20 % der EU-Bevölkerung zumindest eine Impfdosis erhalten.
Dr. Werner Raza ist Leiter der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE)
› mehr Infomationen zu Werner Raza