Aktueller Kommentar Mai 2022

Von der liberalen zur wertebasierten Handelspolitik – auf welcher Grundlage?

Werner Raza

Angesichts zunehmender geopolitischer Konflikte wollen USA und EU in Zukunft eine „wertebasierte Handelspolitik“ betreiben. Was das im Einzelnen heißt, bleibt meist unbestimmt. Grundsätzlich geht es aber darum, die Handelsbeziehungen mit autoritären Staaten zurückzufahren, und jene mit demokratischen und marktwirtschaftlich organisierten Staaten zu fördern. Außen(wirtschafts-)politik mit Werten zu legitimieren, braucht jedoch ein allgemein anerkanntes Fundament. Sonst riskiert der Westen weiter an Glaubwürdigkeit vor allem im Globalen Süden zu verlieren.

Von Werner Raza (ÖFSE)

Unverantwortliches Großmachtstreben als vermeintlicher Handlungsimperativ

Führende Vertreter:innen der USA (z.B. Janet Yellen) und der EU (z.B. Annalena Baerbock) drängen darauf, in Zukunft eine „wertebasierte“ Außen- und Handelspolitik zu betreiben und dazu Bündnisse mit befreundeten Staaten zu forcieren („friend-shoring“). Nicht zufällig fand von 9. bis 10. Dezember 2021 der erste „Gipfel für Demokratie“ statt, bei dem die USA 111 handverlesene Länder mit dem Ziel versammelte, eine Allianz demokratischer Länder im Kampf gegen autoritäre Staaten zu begründen.

Dieses Bestreben kommt zu einem Zeitpunkt, an dem eine zunehmende Zahl von Kommentator:innen aus Wissenschaft und Medien (siehe z.B. HIER, HIER oder HIER) das Ende der neoliberalen Globalisierung konstatiert – und mit ihr eines Wirtschaftsmodells, das seit den 1990er Jahren vorherrscht und auf die unbegrenzte Ausweitung von Handel und Kapitalverkehr über nationale Grenzen hin ausgerichtet ist. Vor dem Hintergrund der zunehmenden Rivalität mit China und des Kriegs in der Ukraine wird sogar schon mancherorts von einem neuen Zeitalter der Deglobalisierung gesprochen.

Für diese Entwicklung verantwortlich gemacht werden vor allem China und Russland. Diese autoritär regierten Staaten würden in ihrem unverantwortlichen Großmachtstreben die ihnen durch das liberale Handelsregime gewährten Privilegien missbrauchen und ihre zunehmende wirtschaftliche Macht für verwerfliche politische Zwecke einsetzen. Aus diesem Grund müsse der liberale Westen nunmehr notgedrungen sein Bekenntnis zu bedingungslos offenen Märkten überdenken und einen Strategiewechsel in seinen Außenwirtschaftsbeziehungen vornehmen.

USA: innenpolitische Krise und außenpolitische Wende

Die Kritik an China und Russland ist in ihrer politischen Dimension grundsätzlich berechtigt. Sie bleibt als Erklärung für die geopolitische Wende aber unvollständig. Die strukturellen Ursachen greifen tiefer. Sie haben mit den sozialen Verwerfungen zu tun, welche mehr als dreißig Jahre von den USA maßgeblich betriebene „Hyper-Globalisierung“ auf globaler Ebene – und in der Hegemonialmacht USA selbst – verursacht haben. Negative Verteilungseffekte zwischen Arm und Reich und fehlende sozialpolitischer Korrekturen haben die Unzufriedenheit in der Bevölkerung stark ansteigen lassen und zum Erstarken rechts-populistischer Kräfte geführt. Allgemein hat sich der politische Mainstream nach rechts verschoben und drückt sich in wirtschaftsnationalistischen Positionen aus. So wurde in den USA der Kern der zuvor als reaktionär-populistisch gebrandmarkten Politiken der Trump-Regierung mehr oder weniger unverändert von der Biden-Administration übernommen und durch finanziell großzügig dotierte Programme zur Rückverlagerung bzw. dem Aufbau von Produktion vor Ort fortgesetzt.

Auch die Krise der multilateralen Handelsordnung mit der Welthandelsorganisation WTO an ihrer Spitze erklärt sich letztlich aus diesen Veränderungen. Nicht die traditionelle Skepsis vieler Länder des Globalen Südens gegenüber der WTO, sondern erst deren Desavouierung durch die Hegemonialmacht USA hat die Krise virulent werden lassen. Die Blockade der Trump-Regierung gegen die Nachbesetzung vakanter Richterpositionen im zentralen WTO-Streitbeilegungs-mechanismus markierte den vorläufigen Höhepunkt einer zunehmenden Entfremdung. Auch die Marginalisierung der WTO wird seitdem von der Biden-Regierung fortgesetzt.

Die letzten zwei Jahre der COVID-19-Pandemie haben schließlich dem politischen Establishment in den USA vor Augen geführt, dass die Globalisierung der Wertschöpfungsketten die US-Wirtschaft verwundbar gemacht hat. Der neue Rivale China hingegen konnte die letzten drei Jahrzehnte für eine wirtschaftliche und technologische Aufholjagd nutzen. Wodurch sich eine Epoche einer neuen Systemkonfrontation abzeichnet. Diese trifft die USA nach knapp drei Jahrzehnten liberaler Hegemonie in einem deutlich geschwächten Zustand. Der mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 sich eröffnende „unipolare Moment“ unangefochtener Vorherrschaft im Weltsystem endete in einer „imperialen Überdehnung“. Teure militärische - und völkerrechtswidrige - Abenteuer (Irak, Afghanistan) und die wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen der Finanzkrise 2007/08 hatten daran ihren Anteil. Innenpolitisch leiden die USA an einer extremen Polarisierung mit dem – wohl nur als Putschversuch zu bezeichnenden – Sturm auf das Kapitol am 6. Jänner 2021 als vorläufigem Höhepunkt. Angesichts äußerst knapper Mehrheitsverhältnisse im Kongress und einer bislang enttäuschenden wirtschafts- und sozialpolitischen Bilanz steht die Biden-Regierung vor den im Herbst 2022 stattfindenden mid-term elections unter enormem Erfolgsdruck. Innenpolitisch weitgehend blockiert, versucht Biden durch eine betont offensive Außen(wirtschafts)politik in der Wähler:innengunst zu punkten.

Als Fazit bleibt, dass die Gründe für die US-Politik, sich nun einer wertebasierten Außen- und Handelspolitik zuzuwenden, eng mit der geschilderten innenpolitischen Gemengelage und ihrer bedrohten hegemonialen Stellung verbunden sind.

Auf welchem Fundament lässt sich eine wertebasierte Handelspolitik begründen?

Wenngleich deutlich langsamer, bewegt sich auch die Außen- und Handelspolitik der EU in Richtung geopolitische Neuausrichtung. Hatte die Trump-Regierung mit ihrer Infragestellung der NATO bereits für erste Irritationen gesorgt und die COVID-19-Pandemie auch in der EU die Frage der Versorgungssicherheit angesichts vulnerabler Wertschöpfungsketten aufgeworfen, so hat vor allem der Krieg in der Ukraine zu einer Beschleunigung geopolitischen Denkens geführt. Gleichzeitig besteht weiterhin eine gewisse Selbstverpflichtung der EU, einen kooperativen Beitrag zur Förderung der Menschenrechte und zur Bewältigung multipler globaler Krisendynamiken (insb. der Klimakrise) zu leisten. Jahrelanges Drängen der Zivilgesellschaft hat vor allem in der EU-Handelspolitik dazu geführt, dass menschenrechtliche Themen deutlich aufgewertet wurden. Das zeigen aktuelle Dossiers wie etwa das geplante EU-Lieferkettengesetz, das Verbot des Imports von mit Zwangsarbeit hergestellten Produkten oder das Verbot des Imports von mit Entwaldung verbundenen Waren.

Die Ausweitung einer solcherart wertebasierten Handelspolitik trifft in vielen Ländern des Globalen Südens nichtsdestotrotz auf Skepsis. Befürchtet wird eine Politik, wo hinter vorgeschobenen moralischen Gründen eine Mischung aus bornierter Machtpolitik und protektionistischer Wirtschaftspolitik gemacht wird. Dieser Vorwurf sollte nicht leichtfertig vom Tisch gewischt, sondern ernst genommen werden. Um ihn zu entkräften, braucht es vor allem zweierlei: zum einen muss der Westen konkret definieren, um welche Werte es im Einzelnen geht. Dem Augenschein nach geht es in der aktuellen Diskussion nicht nur um allgemeine Menschenrechte, sondern zunehmend um sog. „westliche Werte“. Das bedeutet in erster Linie Demokratie und – zumindest implizit –liberal-kapitalistische Marktwirtschaft als quasi natürlichem ökonomischen Komplement dazu. Zum anderen braucht es eine allgemein anerkannte Grundlage, auf deren Basis die Einhaltung und Umsetzung der genannten Werte unabhängig von den Interessen einzelner mächtiger Staaten eingefordert werden kann. Nicht zuletzt die EU betont immer wieder ihr Bekenntnis zu einer regelbasierten internationalen Ordnung. Trotz wohlbekannter Mängel bietet sich dafür letztlich nur das Völkerrecht einschließlich der kodifizierten Menschenrechtsnormen als Basis an.

Für Demokratie- und Marktwirtschaftsexport gibt es keine völkerrechtliche Basis

Wie sieht es nun mit Demokratie und Marktwirtschaft als Wert aus? Unabhängig davon ob man/frau das Winston Churchill zugeschriebene Bonmot von der Demokratie als bester aller schlechten Regierungsformen teilt, enthält das Völkerrecht keine Norm, welche Staaten auf eine demokratische Regierungsform verpflichten würde. Im Gegenteil, die Grundsätze der souveränen Gleichheit und des Selbstbestimmungsrechts der Völker überlässt es der kollektiven Willensbildung jeden Volkes, über seine Regierungsform frei und ohne äußere Einmischung zu entscheiden. Gleiches gilt für die Frage der wirtschaftlichen Organisation. Es bleibt jedem souveränen Staat vorbehalten, die aus seiner Sicht geeignete Wirtschaftsform zu bestimmen. Für die in diesen völkerrechtlichen Grundsätzen zum Ausdruck kommende Neutralität gibt es gute politische und historische Gründe. Die Begriffe sind nicht eindeutig definiert und die Interpretationsspielräume dementsprechend groß. Zu oft wurde in der Geschichte von mächtigen Staaten Einfluss auf die innere Verfasstheit anderer Gesellschaften unter der massiven Missachtung von Menschrechten genommen. Am schwerwiegendsten wohl im Zeitalter des Kolonialismus, wobei die dahinterstehenden kruden materiellen Interessen der Kolonialmächte oft durch die Betonung der damit verbundenen zivilisatorischen Mission gegenüber der lokalen Bevölkerung legitimiert wurden.

Angesichts dieser heute zurecht als rassistisch und imperialistisch anerkannten Praxis der westlichen Mächte stellte die Verabschiedung der UN Charta im Jahr 1945 daher einen ungemeinen historischen Fortschritt dar. Sie bestätigt das Recht der – unter großen Opfern aus dem kolonialen Joch in die staatliche Unabhängigkeit entlassenen – neuen Staaten des Globalen Südens auf nationale Souveränität und Selbstbestimmung.

Zurückhaltung ist schließlich auch angesichts der Geschichte nach 1945 angebracht, die voll ist mit Beispielen von mehr oder weniger brutalen Interventionen in die inneren Angelegenheiten souveräner Staaten und Gesellschaften. Es waren allen voran die USA, die aus geopolitischem Kalkül im Kalten Krieg aktiv am Sturz demokratisch legitimierter Regierungen beteiligt waren (z.B. Guatemala 1954, Chile 1973) oder die aktiv autoritäre Systeme unterstützt haben (z.B. Mobutu im Kongo ab 1961).

Menschenrechte als Basis einer wertebasierten Handelspolitik

Zusammen mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bilden zwei UN-Pakte (Internationaler Pakt über bürgerliche und politische Rechte, Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte) das von der Staatengemeinschaft anerkannte Fundament für den Schutz der Menschenrechte. Von jeweils mehr als 170 Staaten ratifiziert, verpflichten die Pakte die unterzeichnenden Staaten, diese grundlegenden Rechte ihren Staatsbürger:innen zu gewähren. Auch wenn der Rechtsanspruch nur gegenüber den eigenen Bürger:innen besteht und es somit keine internationale Rechtsdurchsetzung gibt, bilden sie den multilateralen Rahmen, auf dessen Basis sich in den letzten gut 50 Jahren ein insgesamt inklusiver politischer Prozess zur kooperativen Weiterentwicklung der Menschenrechte entwickelt hat. Ähnliches lässt sich zu den im Rahmen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) entwickelten Sozialnormen sagen. Auch innerhalb dieses tripartit aufgebauten internationalen Forums hat sich eine kooperative Form zur Definition von Mindeststandards in arbeits- und sozialrechtlichen Fragen herausgebildet. Deren Kern bilden acht Konventionen, die sog. ILO-Kernarbeitsnormen, die zur Gänze bislang von knapp 140 Staaten ratifiziert wurden. Diese regeln vier zentrale Themenfelder, nämlich (i) die Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen; (ii) die Beseitigung der Zwangsarbeit; (iii) die Abschaffung der Kinderarbeit; sowie (iv) das Verbot der Diskriminierung in Beschäftigung und Beruf.

Trotz aller Unzulänglichkeiten ist es doch offensichtlich, dass die menschenrechtlichen Normen und der damit verbundene Prozess über eine breite Legitimation in der internationalen Staatengemeinschaft verfügen. Es gibt internationale Konsultationsprozesse und Monitoring-Mechanismen. Regierungen können für Rechtsverletzungen zur Rede gestellt werden. Internationale wie nationale Gerichte wenden die Menschenrechte an und entwickeln dazu eine Rechtsprechung. Dadurch kommt es auch zu Weiterentwicklungen. So gibt es im Lichte der jüngeren rechtspolitischen Diskussion zu extra-territorialen Staatenpflichten (siehe z.B. HIER oder HIER) eine sich zunehmend konsolidierende Rechtsbasis für Regierungen, einheimische natürliche oder juristische Personen darauf zu verpflichten, in ihrer Geschäftstätigkeit im In-, aber auch im Ausland, die Einhaltung der Menschenrechte durch die Wahrnehmung bestimmter Sorgfaltspflichten zu gewährleisten. Ähnliche Schutzpflichten lassen sich auch als Begründung für handelspolitische Maßnahmen anführen, wie z.B. Importbeschränkungen für Waren, die mit Kinderarbeit, Zwangsarbeit oder schweren Auswirkungen auf die Umwelt produziert wurden. Entscheidend ist hier, menschen- oder umweltrechtliche Ziele transparent zu kommunizieren, geeignete Maßnahmen zur effektiven Zielerreichung zu ergreifen, und für etwaige negative Auswirkungen auf Dritte – und hier vor allem auf die Länder des Globalen Südens – im Dialog mit den Betroffenen angemessene Lösungen zu finden.

Fazit: Zurückhaltende Praxis ist angebracht

Dass ausgehend von den USA der Ruf nach einer wertebasierten Handelspolitik wieder stärker wird und auch in der EU auf Widerhall stößt, ist kein Zufall. Dahinter stehen handfeste politische und wirtschaftliche Interessen angesichts einer sich veränderten internationalen Konstellation. In seiner außenpolitischen Praxis hat aber gerade der sich als moralisch überlegen fühlende Westen Demokratie und Menschenrechte lang mit Füßen getreten. Eine wertebasierte Außen- und Handelspolitik sollte daher strikt auf Basis des Völkerrechts geführt werden. Dieses unterstützt die stärkere Berücksichtigung von menschenrechtlichen Normen, stellt aber keine Basis für die Durchsetzung von Demokratie und liberaler Marktwirtschaft nach westlichem Muster zur Verfügung. Eine wertebasierte Handelspolitik, welche diese zentrale Differenzierung nicht berücksichtigt, riskiert die politische Kluft zu den Ländern des Globalen Südens weiter zu vertiefen. Angesichts der existenziellen internationalen Krisen des 21. Jahrhunderts, die nur durch enge internationale Zusammenarbeit bewältigt werden können, wäre dies mehr als kontraproduktiv.

Dr. Werner Raza ist Leiter der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE)
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