Aktueller Kommentar Mai 2023

Aktuelle ODA-Zahlen: Wie man eine Statistik Stück für Stück verwässert

Foto (c) Philine Zech Photography

Österreich meldete 2022 mehr als 1,7 Mrd. € an Entwicklungsleistungen und damit mehr als im Jahr davor. Das klingt zuerst einmal gut. Ein genauerer Blick zeigt jedoch, dass das dahinterstehende statistische Maß dank kontinuierlicher Aufweichung an Aussagekraft eingebüßt hat. Öffentliche Entwicklungsfinanzierung wird dadurch immer schwerer vermittelbar. Eine Kampagne will nun gegensteuern.

Von Lukas Schlögl (ÖFSE), Mai 2023

Was stellen Sie sich vor, wenn Sie das Wort „Entwicklungszusammenarbeit“ (EZA) hören? Ein landwirtschaftliches Projekt im südlichen Afrika? Den Bau einer Schule oder eines Spitals? Soforthilfe nach einer Naturkatastrophe? Solche Aktivitäten wären Beispiele für das, was man landläufig unter EZA bzw. humanitärer Hilfe versteht: Projekte, die das Ziel verfolgen, die Entwicklung in Ländern mit geringerem Einkommen zu fördern oder diese in besonderen Notlagen zu unterstützen.

Österreich gab nach jüngsten Daten im vergangenen Jahr mehr als 1,7 Mrd. € bzw. 0,39% seines Bruttonationaleinkommens (BNE) für „Official Development Assistance“ (ODA) aus. ODA ist das internationale Maß öffentlich finanzierter Entwicklungszusammenarbeit, das einem peniblen Berichtswesen unter Ägide der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) folgt. Von den gut 1,7 Mrd. € entfiel jedoch nur grob ein Fünftel auf bilaterale Projekte und Programme im obigen Sinne. Das Gros entfiel auf andere Leistungen. Weshalb?  

Dafür gibt es einerseits gute Gründe. Die EZA hat sich seit ihren Anfängen Mitte des 20. Jahrhunderts weiterentwickelt und beschränkt sich nicht mehr nur auf konventionelle Entwicklungsprojekte. Beiträge an multilaterale Organisationen (Europäische Union, Vereinte Nationen, u.v.m.), die damit ihrerseits entwicklungsbezogene Aktivitäten finanzieren, zählen ebenso zur ODA wie friedenserhaltende Maßnahmen, Initiativen zur Bewusstseinsbildung in Österreich oder Budgethilfen, bei denen bestimmte Staatsausgaben von Entwicklungsländern bezuschusst werden. Soweit, so plausibel.

Kontinuierliche Anpassungen des ODA-Regelwerks haben jedoch auch seltsamere Blüten getrieben. So ist es möglich, Fixkosten für den Betrieb österreichischer Hochschulen anteilig zur Zahl der Studierenden aus Entwicklungsländern als ODA zu deklarieren. Das Gleiche gilt für die Kosten der Betreuung Geflüchteter aus ebendiesen Ländern im ersten Jahr nach deren Ankunft in Österreich oder für die Entschuldung längst abgeschriebener finanzieller Verbindlichkeiten aus uralten Exportgeschäften.

Konform mit den ODA-Richtlinien meldet Österreich wie andere OECD-Geber solche auf fragwürdigen Annahmen basierenden Finanzflüsse. Und es handelt sich dabei nicht um „Peanuts“. Errechnete Studienplatzkosten (vorwiegend Studierende aus der Türkei und Ländern des Balkans) machten in der ODA-Statistik mit zuletzt über 120 Mio. € ungefähr so viel wie das Budget von Österreichs staatlicher Entwicklungsagentur (ADA) aus, die in erster Linie EZA-Projekte finanziert. Die Anrechnung der Betreuungskosten Geflüchteter – vor allem aus der Ukraine – betrug im vergangenen Jahr etwa ein Fünftel der gesamten ODA. In den 1980er-Jahren, als dies erstmals Thema in der OECD wurde, hatte sich das zuständige Sekretariat noch mit guten Gründen gegen eine Anrechenbarkeit dieser Kosten ausgesprochen.

Neu hinzu gekommen ist zudem eine schnell wachsende Summe sogenannter Privatsektor-Initiativen, die in der ODA-Statistik nun ebenfalls das Budget der ADA übersteigen. Darunter fallen vor allem Aktivitäten der österreichischen Entwicklungsbank (OeEB). Sie vergibt im Auftrag des Bundes zu marktnahen Konditionen Kredite mit entwicklungspolitischer Orientierung an Unternehmen in Entwicklungsländern bzw. erwirbt Beteiligungen an solchen. Das derzeit große Gewicht der OeEB in der ODA-Statistik geht auf provisorische Richtlinien zurück, die aufgrund von Uneinigkeiten in der OECD über die Art der Anrechnung solcher Initiativen in Kraft sind. Den bisher üblichen Kriterien der Konzessionalität, d.h. der Vergünstigung, von ODA entsprechen sie im gemeldeten Umfang nicht.

Womit wir bei der Wurzel des Problems angelangt sind: der OECD. Niemand bestreitet den gesellschaftlichen Wert der Betreuung Geflüchteter und Studierender aus Entwicklungsländern in Österreich oder von Projekten der OeEB. Diese und ähnliche Leistungen in der gegebenen Größenordnung in die ODA-Statistik hineinzurechnen, führt aber zunehmend zu Beliebigkeit und macht das Bild der öffentlichen Entwicklungsfinanzierung immer schwerer vermittelbar.

Vor diesem Hintergrund mehren sich Stimmen, die einen Umbau der ODA und des zuständigen Gremiums in der OECD fordern. Eine neue Kampagne, initiiert von einer Gruppe von Insidern, nennt sich ODA REFORM. Hedwig Riegler, ehemalige Chef-Statistikerin der ADA und Mitglied der Initiative, fordert in einem Kommentar, sich auf die Wurzeln der ODA zu besinnen und Politik und Statistik stärker zu trennen, um einer völligen konzeptuellen Aufweichung entgegen zu wirken. Die Hoheit über die Regeln der ODA-Statistik würde Riegler dem OECD-Ausschuss für Entwicklungshilfe (DAC) entziehen und stattdessen einem unabhängigen Weisenrat übertragen.

Fragen des Meldewesens mögen „technisch“ wirken – in Wahrheit geht es jedoch um Politik. Die Probleme der ODA liegen im Kern darin begründet, dass die EZA-Geber die statistischen Spielregeln festlegen. Und diese haben vor dem Hintergrund internationaler Finanzierungszusagen (Stichwort: 0,7% ODA/BNE) Anreize, die Spielregeln immer weiter zu dehnen. Öffentliche Statistiken sind freilich immer Begehrlichkeiten ausgesetzt. Goodharts Gesetz, benannt nach einem britischen Ökonomen, postuliert gar, dass jedes Maß, einmal zum politischen Ziel geworden, seine statistische Verlässlichkeit einbüßt. Ohne Statistik geht es jedoch nicht, denn nur sie ermöglicht Transparenz und Kontrolle durch die Öffentlichkeit. Mit der Glaubwürdigkeit der ODA-Statistik steht und fällt die Verständlichkeit der EZA-Leistungen und damit die demokratische Rechenschaftspflicht des Sektors.

Für die Zivilgesellschaft bedeutet das: genau hinsehen. Hinter der scheinbaren Steigerung der EZA-Ausgaben im Jahr 2022 gegenüber dem Vorjahr um über 380 Mio. € verbergen sich statistisch fragwürdige Einmaleffekte und die Anrechnungen von Leistungen, die dem Geist der ODA-Statistik kaum noch entsprechen. Tatsächlich hat sich an entwicklungspolitisch motivierter und gestalteter ODA im Jahr 2022 nicht viel geändert. Aufgabe der Entwicklungsforschung muss es sein, diese Zahlen kontinuierlich zu hinterfragen – und Österreichs Rolle als stimmberechtigtes Mitglied in den entsprechenden Gremien genau zu beobachten.

Dr. Lukas Schlögl ist Senior Researcher an der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung (ÖFSE).
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