Aktueller Kommentar September 2021

Die aktuelle Debatte um Österreichs „Hilfe vor Ort“ – eine Einschätzung

Michael Obrovsky

„Hilfe vor Ort“ als neues Mantra der Bundesregierung ist ein unscharfer Begriff, der nicht mit eindeutigen Zahlen unterlegt werden kann. Auch wenn die humanitäre Hilfe Österreichs in den letzten Jahren deutlich angewachsen ist, zeigt ein Blick in die offizielle Statistik, dass Österreich nicht zu den Ländern mit überproportionalen Hilfsleistungen vor Ort zählt.

Von Michael Obrovsky (ÖFSE), September 2021

Mit dem Abzug der US- und der NATO-Streitkräfte aus Afghanistan Ende August 2021, der Machtübernahme der Taliban und den Versuchen vieler Afghanen und Afghaninnen das Land zu verlassen, ist auch die Diskussion über die internationale Hilfsbereitschaft Österreichs neu aufgeflammt. Innerhalb der Regierung gibt es zwei unterschiedliche Standpunkte. Während die Grünen für eine Aufnahme von Menschen, deren Leben unmittelbar bedroht ist, in Österreich sind, lehnt die ÖVP die Aufnahme von weiteren Geflüchteten kategorisch ab. Argumentiert wird die Ablehnung einerseits mit dem Umstand, dass Österreich seit 2015 weit mehr Menschen aus Afghanistan als viele andere europäische Länder aufgenommen hat und andererseits mit dem Verweis darauf, dass Österreich seinen Beitrag mit überproportional viel „Hilfe vor Ort“ leiste. Lässt sich das Argument der „Hilfe vor Ort“ mit internationalen Vergleichsdaten belegen?

Humanitäre Hilfe oder „Hilfe vor Ort“

Der öffentliche Diskurs über die internationale humanitäre Hilfe wird auf verschiedenen Ebenen geführt und folgt unterschiedlichen außen- und innenpolitischen Interessen. Dabei werden nicht nur Begriffe unterschiedlich verwendet, sondern auch Ausgaben pauschal zugeordnet und mit anderen Ländern verglichen, auch wenn die Vergleichbarkeit nicht immer möglich ist.

Der Begriff „Humanitäre Hilfe“ wird im internationalen Sprachgebrauch für Maßnahmen verwendet, die zur Linderung von Leid in akuter Not beitragen und nach Naturkatastrophen, Konflikten und Kriegen das unmittelbare Überleben sicher sollen. Humanitäre Hilfe wird im Regelfall sechs Monate geleistet, danach sollte der Wiederaufbau oder die Verbesserung der Lebensbedingungen für die betroffene Bevölkerung im globalen Süden im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit (EZA) weitergeführt oder von der Regierung übernommen werden. Entwicklungszusammenarbeit oder auch Entwicklungshilfe hat eine langfristige gesellschaftliche Veränderung zum Ziel, die ein Partnerland bei der nachhaltigen wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung unterstützen soll.

Der Begriff „Hilfe vor Ort“ ist kein im internationalen Diskurs eingeführter Terminus, da er wenig aussagekräftig ist. Damit lassen sich weder die Art der Hilfsmaßnahmen noch der Einsatzort der Aktivitäten eindeutig definieren, zumal „vor Ort“ als geografische Kategorie sehr beliebig ist. Ist damit ein Land, eine Region oder ein konkreter Ort gemeint? Wenn damit jener Ort gemeint sein soll, wo Hilfe am dringendsten benötigt wird, um zur Linderung von akuter Not beizutragen, dann ist es – vor allem im internationalen Vergleich – sinnvoller, beim Begriff „Humanitärer Hilfe“ zu bleiben. Denn es gibt Definitionen, Richtlinien und Sektorkodierungen für Aktivitäten im Bereich „Emergency Response“, die von allen DAC-Geberländer bei ihren Meldungen der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit verwendet werden, mit denen die Aktivitäten eindeutig erfasst und auch international verglichen werden können. Maßnahmen der Entwicklungszusammenarbeit werden ebenso vielfach „vor Ort“ im Partnerland realisiert, um möglichst effektiv sein zu können. Diese Maßnahmen unterscheiden sich aber per definitionem von der Humanitären Hilfe.

Aber auch Leistungen, die im Geberland selbst erbracht werden, werden vom Development Assistance Committee der OECD als bilaterale öffentliche EZA für die Berechnung der ODA-Quote (Official Development Assistance) anerkannt. Dazu zählen zum Beispiel Studienplatzkosten für Studierende aus dem globalen Süden, Stipendien, Kosten für AsylwerberInnen aus dem globalen Süden, Entschuldungen, Administrationskosten sowie Ausgaben für Öffentlichkeitsarbeit und entwicklungspolitische Bildung. Eine wesentliche Begründung für diese nicht unproblematische Praxis liegt in der Annahme, dass diese Ausgaben zumindest zu indirekten Entwicklungseffekten führen, etwa wenn eine in Österreich ausgebildete Person ihr Wissen in ihrem Herkunftsland zum Wohle ihrer Gesellschaft anwendet.

Bei der Statistik der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit (ODA) werden daher die Leistungen, die Österreich bei der Aufnahme von Flüchtlingen aus Afghanistan in den letzten Jahren erbracht hat, berücksichtigt und fließen in die ODA-Quote ein. Österreich hat etwa bereits im Jahr 2015 rund 396 Mio € und 2016 539 Mio € für die Kosten der Betreuung von AsylwerberInnen im ersten Jahr – entsprechend den Melderichtlinien des DAC – als öffentliche Entwicklungszusammenarbeit verbucht. Sie sind daher Bestandteil der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit, auch wenn sie im Geberland erbracht werden und daher keine Hilfe vor Ort darstellen. Um jene Leistungen zu erfassen, die über mehrere Jahre einer Strategie oder einem Programm folgend – also plan- und steuerbar – einem Partnerland zur Verfügung gestellt werden, wurde der Begriff Country Programmable Aid (CPA) im Rahmen des DAC der OECD beschlossen. Diese Leistungen exkludieren nicht programmierbare und nicht planbare Auszahlungen im Bereich der humanitären Hilfe und der Entschuldung sowie die Leistungen im Geberland. Die CPA wäre daher auch eine im internationalen Vergleich vorhandene Messgröße für Maßnahmen, die gemeinsam mit Partnerländern über mehrere Jahre programmiert und im Partnerland durchgeführt werden.

Unter „vor Ort“ Aktivitäten lassen sich daher viele verschiedene Aktivitäten subsumieren, die addierte Summe der Ausgaben lässt aber nur bedingt Aussagen über die Qualität der Hilfe zu. So sind etwa Budgethilfen ebenso „vor Ort“ wie Ausgaben für Programme und Projekte, für österreichische LehrerInnen an Auslandsschulen oder für Geberpersonal „vor Ort“. Die statistische Erfassung von „vor Ort“-Leistungen der Geberländer bedürfte daher genauer Definitionen, was darunter zu verstehen ist, andernfalls läuft man Gefahr, die Vergleichbarkeit und die Glaubwürdigkeit der ODA-Statistik zu unterminieren. Eine Kategorisierung „vor Ort“ bietet keinen Vorteil im Vergleich zur vorhandenen DAC-Terminologie, da der Hauptanteil der öffentlichen EZA ja im Regelfall ohnehin im Partnerland umgesetzt werden sollte.

„Hilfe vor Ort“: Österreich im internationalen Vergleich

Das Argument, dass in Österreich eine der größten afghanischen Communities in Europa lebe (laut Statistik Austria waren es Anfang 2021 rund 44.000 Staatsangehörige aus Afghanistan) und Österreich daher „freiwillig“ keine weiteren Flüchtlinge aus Afghanistan aufnehmen werde, geht von einer politisch normativen Obergrenze für Angehörige aus Afghanistan aus und nicht primär vom humanitären Notstand. Der Vergleich mit anderen europäischen Ländern lässt die Annahme zu, dass hier Defizite der Europäischen Asyl- und Migrationspolitik im Vordergrund stehen, die hier aufgerechnet werden. Das Argument wird noch damit untermauert, dass Österreich anstatt der Aufnahme von Flüchtlingen „überproportional Hilfe vor Ort leiste“. Zwar stimmt es, dass die Bundesregierung im Jahr 2020 die Mittel für den Auslandskatastrophenfonds (AKF) von 25 Mio € auf 50 Mio € aufgestockt hat, im internationalen Vergleich ist diese Summe für die humanitäre Hilfe aber immer noch gering und führt auch nur zu geringfügigen Veränderungen der österreichischen ODA-Quote.

Grafik: ODA 2020 (grant equivalent Basis) in % des BNE

Quelle: OECD DAC (vorläufige Zahlen, 13.04.2021)

Auch wenn Österreichs ODA-Quote für das Jahr 2020 0,29% des BNE beträgt und somit im Vergleich zu 2019 um 0,01% angestiegen ist, liegt dieser Wert doch weit weg von den bereits im Jahr 1970 zugesagten 0,7% des BNE für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit.

Analysiert man die DAC-Statistiken der vorläufigen ODA-Meldungen für das Jahr 2020 im Hinblick auf die im Jahr 2020 geleistete humanitäre Hilfe, dann zeigt sich ein ähnliches Bild. Zwar sind die Leistungen für humanitäre Hilfe Österreichs im Vergleich zum Jahr 2019 von rd. 34 Mio € auf rd. 50 Mio € angestiegen, im internationalen Vergleich sind sie allerdings bescheiden, die Schweiz verbuchte 2020 mit rd. 516 Mio € das 10-fache und Deutschland mit rd. 2,6 Mrd € mehr als 52 mal soviel als Österreich. Umgerechnet auf die pro Kopf Ausgaben bei der bilateralen humanitären Hilfe lag Österreich 2020 bei 5,59 €. Die Schweiz lag bei fast 60 € pro Kopf, Deutschland bei knapp über 31 € und Finnland bei etwa 14 €.

Grafik: Bilaterale Humanitäre Hilfe/pro Kopf 2020 in Euro

Quelle: OECD DAC: International Development Statistics IDS

Selbst bei den pro Kopf Ausgaben für AsylwerberInnen im Geberland lag Österreich im Jahr 2020 mit 3,06 € unter dem EU-Durchschnitt von 11,19 €.

Auch bei der Country Programmable Aid – CPA lag Österreich mit nur rund 82 Mio € im Jahr 2019 (letzte verfügbare Daten) im letzten Drittel der europäischen Geberländer.

Im Hinblick auf Afghanistan hat Österreich bei der UN-Geberkonferenz für Afghanistan am 13. September in Genf 20 Mio € zugesagt, wovon 18 Mio € aus dem AKF stammen und weitere 2 Mio € aus dem Budget der Austrian Development Agency zur Verfügung gestellt werden. Insgesamt hat die Geberkonferenz Zusagen von mehr als 1 Mrd US$ eingebracht. Deutschland hat im Vergleich unmittelbar 100 Mio € an humanitärer Hilfe zugesagt und weitere 500 Mio € für die Unterstützung Afghanistans und der Nachbarländer in Aussicht gestellt.

Fazit: International herzeigbare „Vor Ort“-Hilfe braucht mehr Mittel

Österreich hat zwar sein Budget für den Auslandskatastrophenfonds im Jahr 2020 verdoppelt. Insgesamt ist die österreichische humanitäre Hilfe aber ebenso wie die Country Programmable Aid im internationalen Vergleich nach wie vor bescheiden. Das Argument, dass Österreich einen überproportionalen Beitrag leistet, gilt daher allenfalls im Hinblick auf die hohe Zahl von aufgenommenen Menschen aus Afghanistan während der letzten Jahre, keineswegs aber für die humanitäre Hilfe und die Entwicklungszusammenarbeit Österreichs „vor Ort“. Sollte die Bundesregierung hier mehr Engagement anstreben, dann müsste das Budget dafür signifikant erhöht werden.

Dr. Michael Obrovsky, Stellvertretender Leiter der ÖFSE
Arbeitsschwerpunkte: Österreichische und internationale Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit, Zivilgesellschaft und Entwicklung
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