Aktueller Kommentar November 2020

Humanitäre Hilfe – neben mehr Geld braucht es durchdachte Strategie

Michael Obrovsky

Der Brand des Flüchtlingslagers Moria auf der Insel Lesbos hat nicht nur zu einer Budgeterhöhung der österreichischen humanitären Hilfe (HuHi) geführt, sondern auch zur Bestellung eines Sonderbeauftragten für humanitäre Hilfe. Die angekündigte neue Strategie für die HuHi ist dringend nötig, muss aber in ein Gesamtkonzept für eine kohärente internationale Zusammenarbeit auf Basis der nachhaltigen Entwicklungsziele eingebettet sein.

Von Michael Obrovsky (ÖFSE), November 2020

Die sowohl von der Bundesregierung als auch von der Zivilgesellschaft als Erfolg gefeierte Steigerung des Budgets für den Auslandskatastrophenfonds (AKF) im Jahr 2020 von € 25 Mio auf € 50 Mio ist grundsätzlich zu begrüßen, da Österreich im internationalen Vergleich hier bisher schlecht abgeschnitten hat. Nun gilt es aber, die politische Reflexhandlung –  mit der einerseits die ablehnende Haltung Österreichs bei der Aufnahme von jugendlichen MigrantInnen mit finanziellen Mitteln für Maßnahmen der humanitären Hilfe „vor Ort“ kompensiert werden und andererseits für etwaige COVID-19 Hilfsmaßnahmen vorgesorgt werden sollte – in eine langfristige Strategie überzuführen. Dieser politische Kompromiss öffnete nicht nur ein „window of opportunity“ für mehr Geld, sondern muss auch für eine verbesserte strategische Planung genutzt werden. Dabei soll der nunmehr ernannte Sonderbeauftragte für humanitäre Hilfe Christoph Schweifer – der ehemalige langjährige Generalsekretär für internationale Zusammenarbeit bei der Caritas – behilflich sein, mit dem auch die humanitäre Hilfe als gemeinsames Anliegen der KoalitionspartnerInnen der Bundesregierung aufgewertet wurde. So notwendig humanitäre Hilfe auch ist, sie unterliegt der ständigen Gefahr, für die politische Profilierung von PolitikerInnen herhalten zu müssen. Die Entscheidung über die Vergabe humanitärer Hilfsgelder bzw. deren Höhe folgt neben persönlichen Kalkülen oft auch außenpolitischen Erwägungen, die sich nicht an den unmittelbaren Bedürfnissen vor Ort orientieren. Es wird daher auch erforderlich sein, die humanitäre Hilfe stärker als internationale Verpflichtung, als Zukunftsinvestition und Kooperation mit den Partnerländern zu planen und zu kommunizieren.

HuHi als Teil des Regierungsprogramms

Die „Substantielle Erhöhung der Hilfe vor Ort: Aufstockung der humanitären Hilfe“ sowie eine „Strategie mit Zielen und Zuständigkeiten“ für die humanitäre Hilfe sind im Regierungsprogramm 2020–2024 verankert. Die Erhöhung des AKF wurde aus Anlass der öffentlichen Diskussion der österreichischen Position im Umgang mit der Situation der Flüchtlinge auf der Insel Lesbos und im Hinblick auf notwendige Maßnahmen im Zusammenhang mit der COVID-19 Pandemie vorgezogen. Die Ernennung des Sonderbeauftragten für humanitäre Hilfe geht auf die Initiative der Grünen zurück, die die Verwendung der zusätzlichen Finanzmittel inhaltlich nicht der Volkspartei und dem BM für europäische und internationale Angelegenheiten (BMEIA) überlassen wollten. Daher ist der Sonderbeauftragte beim Vizekanzler im Bundeskanzleramt angesiedelt und dem BMEIA zugeteilt. Das Kabinett des Vizekanzlers wird gemeinsam mit dem BMEIA die Ministerratsvorlagen zum Beschluss im Ministerrat vorbereiten. Bis Mitte des Jahres 2021 soll eine Strategie der humanitären Hilfe Österreichs erarbeitet werden, mit der die Rahmenbedingungen für die Planung und Vergabe der Mittel abgesteckt werden sollen.

Überholungsbedürftiger rechtlicher Rahmen

Das Auslandskatastrophenfondsgesetz (BGBl.I Nr.23/2005) aus dem Jahr 2005 bildet die Grundlage für die Finanzierung für Maßnahmen im Zusammenhang mit Katastrophenfällen im Ausland, die der Beseitigung von Katastrophenschäden und der humanitären Hilfe dienen. Das knapp formulierte Gesetz besteht aus 7 Artikeln, die im wesentlichen die Errichtung des Hilfsfonds, die Verwaltung des Fonds durch den/die Bundesminister/in für auswärtige Angelegenheiten, die Beschlussfassung über die Verwendung der Mittel durch die Bundesregierung, die Einsetzung von Beiräten, den Termin des In-Kraft-Treten sowie die mit der Vollziehung des Gesetztes betrauten Bundesministerien definieren. Mit der Budgetierung des AKF und der Anhebung des Budgets auf € 50 Mio im Jahr 2020 stellen sich viele Fragen, die vom Auslandskatastrophengesetz nicht geregelt werden, aber im Rahmen einer Strategie angesprochen werden sollten. Der AKF erreicht 2020 mit € 50 Mio fast die Hälfte des operativen Budgets der Austrian Development Agency (ADA) (€ 103,6 Mio). Da die Mittel des AKF auch von der ADA abgewickelt werden und ein enger Nexus zwischen humanitärer Hilfe, nachhaltiger Entwicklung und Sicherheit und Frieden besteht, gibt es Schnittstellen zwischen der Humanitären Hilfe und der OEZA.

Leitlinien für die Internationale humanitäre Hilfe wurden von der ADA bereits im Jahr 2007 erstellt, um auf einen Bezugsrahmen für die Umsetzung des AKFs verweisen zu können. Die Leitlinien dienten vor allem der begrifflichen Definition und Abgrenzung der humanitären Hilfe, der Einbettung der humanitären Hilfe in den Kontext der OEZA sowie der strategischen Ausrichtung der humanitären Hilfe in der OEZA. Die Leitlinien reichen aber aufgrund der veränderten innenpolitischen als auch globalen Rahmenbedingungen nicht mehr aus, um die Verwendung des stark angestiegenen AKF-Budgets kohärent und effizient mit den anderen Instrumenten der internationalen Zusammenarbeit abzustimmen.

Abstimmung mit der Entwicklungspolitik

Die Programmatik der Österreichischen Entwicklungspolitik wird im Dreijahresprogramm der österreichischen Entwicklungspolitik festgeschrieben. Dieses versteht sich als gesamtstaatliche Strategie für eine möglichst kohärente Entwicklungspolitik Österreichs. Unter dem thematischen Schwerpunkt „Einsatz für Frieden und Sicherheit“ findet sich auch ein Abschnitt zur humanitären Hilfe, in dem als besondere Herausforderung für die österreichische Entwicklungspolitik die bessere Abstimmung von humanitärer Soforthilfe und langfristiger Entwicklungszusammenarbeit (EZA) betont wird. Konkret heißt es im Dreijahresprogramm 2019-2021: „Angesichts langanhaltender und wiederkehrender humanitärer Krisen muss der Nexus von humanitärer Hilfe mit EZA und Friedenskonsolidierung neu gedacht werden. Die Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegenüber vorhersehbaren Krisen, die Betonung von Katastrophenvorsorge, Stabilisierung und Friedenssicherung sowie Konfliktprävention und Resilienz stehen hier im Vordergrund. Die verbesserte Abstimmung von humanitärer Hilfe und langfristiger EZA erfordert erhöhte Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von Entwicklungsprogrammen an unvorhersehbare Situationen und Änderungen der Bedürfnisse der betroffenen Menschen in langanhaltenden Krisen.“

Aus diesem Ansatz resultieren vor dem Hintergrund der signifikanten Budgeterhöhung des AKF zahlreiche offene Fragen zur konkreten Ausrichtung der Strategie der humanitären Hilfe und der Schnittstellen und Übergänge zur langfristigen EZA. Sind etwa Maßnahmen für die Stärkung der Widerstandsfähigkeit gegenüber vorhersehbaren Krisen, die Betonung von Katastrophenvorsorge, Stabilisierung und Friedenssicherung sowie Konfliktprävention und Resilienz ein Fall für die Finanzierung aus dem AKF oder sind sie aus dem ADA-Budget zu finanzieren? Auch wenn der Bedarf für Katastrophenhilfe „ex post“ im Ausland bisher größer als das AKF-Budget war, ist aus Anlass der Budgetverdoppelung zu diskutieren, ob die Finanzierung von Präventivmaßnahmen oder etwa die Stärkung von Institutionen bei vorhersehbaren Krisen nicht weitaus effektiver ist, als der Einsatz humanitärer Hilfe nach dem Ausbruch einer Krise. Auch wenn Regierungen bzw. PolitikerInnen humanitäre Hilfsmaßnahmen nach einer Katastrophe besser für einen positiven Imagegewinn vermarkten können als etwa Maßnahmen zur Steigerung der Resilienz, so sollte doch – vor dem Hintergrund der Diskussion über die Effektivität der EZA und der humanitären Hilfe – der Krisenvorsorge der Vorzug gegeben werden.

Unterschiedliche Vergabemodalitäten erschweren Steuerung

Die Planungs- und Steuerungsprozesse bei AKF und EZA sind unterschiedlich. Während die Projekte der humanitären Hilfe über den AKF anlassbezogen vom Ministerrat beschlossen werden, obliegen die Programme und Projekte der EZA einer längerfristigen Planung durch BMEIA und ADA und sind im Einklang mit den Schwerpunkten des Dreijahresprogramms umzusetzen. Der Logik der humanitären Hilfe entsprechend, treten Krisen und Katastrophen weder geplant noch ausschließlich in den Schwerpunktländern und -regionen der österreichischen EZA auf. Es braucht daher eine stärkere budgetäre Flexibilität bei der humanitären Hilfe. Gerade die COVID-19 Pandemie hat uns gezeigt, dass bei Krisen- und Katastrophenfällen die ersten – meist finanziellen – Hilfsmaßnahmen zwar wichtig sind, aber oftmals nicht ausreichen, um einen nachhaltigen Neustart zu ermöglichen. Es ist wohl einsichtig, dass etwa eine erste Lieferung von Zelten, Decken und Hygieneartikel nach dem Brand des Flüchtlingslagers unmittelbar hilft, dennoch wäre es naiv zu glauben, dass mit dieser Lieferung eine nachhaltige Verbesserung der Situation im Flüchtlingslager Moria erreicht werden kann. Dies übersteigt die Möglichkeiten der humanitären Hilfe. Wenn die humanitären Maßnahmen nachhaltig Wirkung zeigen sollen, dann müssten sie in vielen Fällen nicht nur von der internationalen Gemeinschaft gemeinsam und koordiniert durchgeführt werden, sondern auch von der EZA längerfristig begleitet werden. Eine signifikante Erhöhung des EZA-Budgets und der Beiträge zu internationalen Einrichtungen (v.a. UN-Organisationen) wäre daher komplementär zur Steigerung des AKF erforderlich, um die Wirkung der humanitären Hilfe auch längerfristig abzusichern.

Weiters ist derzeit nicht klar, ob nicht verbrauchte Gelder des AKF in einem Budgetjahr als AKF-Reserve im BMEIA angelegt werden können, oder ob diese ins allgemeine Bundesbudget zurückfließen. Eine Alternative wäre etwa, nicht verbrauchte Gelder dem ADA-Budget des nächsten Jahres für Projekte und Maßnahmen für die nachhaltige Begleitung von Soforthilfe zur Verfügung zu stellen.

Bei der institutionellen Evaluierung der ADA im Jahr 2019 wurde empfohlen, eine entsprechende Aufwandsentschädigung für die Durchführung der AKF Projekte in der Höhe von 3% der Projektsumme einzuführen. Die Kosten einer professionellen und effektiven Durchführung der humanitären Hilfe können nicht einfach – wie bisher – in das EZA-Budget ausgelagert werden, ohne das operative Budget der EZA zu reduzieren.

Eckpunkte einer Strategie für die humanitäre Hilfe

Eine neue Strategie der humanitären Hilfe ist daher dringend nötig. Ihre wesentlichen Eckpunkte müssten enthalten: (i) eine klare Definition des Aufgabenbereichs, (ii) eine Budgetplanung für langfristige, versteckte und vorhersehbare Krisen, für Präventivmaßnahmen auch für die Unterstützung der humanitären Hilfe von multilateralen Einrichtungen sowie einen Anteil, um flexibel auf unvorhersehbare Ereignisse reagieren zu können, (iii) die Einbindung der österreichischen AkteurInnen und KooperationspartnerInnen bei der Vorbereitung von Ministerratsvorträgen für die Vergabe der AKF-Mittel, (iv) die Kooperation mit internationalen und multilateralen Organisationen als Implementierungspartner im Bereich der humanitären Hilfe, (v) klare Koordinierungsregelungen und Durchführungsbestimmungen, mit Zuständigkeiten und Verantwortungen für das Schnittstellenmanagement zwischen den Politikbereichen, (vi) finanzielle und personelle Ressourcen für die Durchführung des AKF, (vii) ein transparentes Berichtswesen, (viii) Partizipationsprozesse und Feedbackschleifen für die Zivilgesellschaft und für AkteurInnen zur Strategieentwicklung, (ix) Monitoring und Lernprozesse

Angesichts der engen Verschränkung (der Nexus) und Abstimmungserfordernisse zwischen humanitärer Hilfe, EZA und auch anderen Politikbereichen bei gleichzeitig ausgeprägten institutionellen, budgetären und organisatorischen Fragmentierungen drängt sich die Frage auf, ob nicht ein Gesamtkonzept einer nachhaltigen internationalen Zusammenarbeit Österreichs – im Sinne einer kohärenten globalen Nachhaltigkeitspolitik – dringend notwendig wäre. Eine Strategie für die humanitäre Hilfe könnte ein wichtiger Schritt dazu sein.

Dr. Michael Obrovsky, Stellvertretender Leiter der ÖFSE
Arbeitsschwerpunkte: Österreichische und internationale Entwicklungspolitik und Entwicklungszusammenarbeit, Zivilgesellschaft und Entwicklung
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