Aktueller Kommentar März 2017

Globale Ungleichheit, Migration und Entwicklungspolitik


Die dramatischen Einkommensungleichheiten zwischen reichen und armen Ländern sind ein wichtiger Grund dafür, dass Menschen ihre Heimat auf der Suche nach einem besseren Leben verlassen. Wer daher Anreize für Migration senken möchte, muss entschiedene Schritte zur Bekämpfung der globalen Ungleichheit setzen. Dazu braucht es auch einen neuen Ansatz für die EU Entwicklungszusammenarbeit.

Werner Raza (ÖFSE), März 2017

Branko Milanovic, einer der führenden Wissenschaftler im Feld der Ungleichheitsstudien, argumentiert in seinem neuen Buch überzeugend, dass globale Ungleichheiten bezogen auf Einkommensunterschiede zwischen Regionen – etwa zwischen Entwicklungs- und Industrieländern – in ihrem Ausmaß dramatisch sind und zugleich bedeutend höher als Ungleichheiten zwischen Kapital und Arbeit. So beträgt etwa der Einkommensunterschied zwischen der Demokratischen Republik Kongo und Schweden im Durchschnitt 7.200% und für das unterste Dezil der Einkommensverteilung sogar 10.400%. Für Milanovic widerspricht diese ‚citizenship premium‘ dem Prinzip der universellen Chancengleichheit, indem der Geburtsort eine willkürliche Beeinträchtigung der individuellen Perspektiven darstellt. Diesem ungleichheitsgenerierenden Umstand müsse demnach begegnet werden.

Milanovic benennt die erheblichen Unterschiede im Einkommen als zentralen ökonomischen Anreiz für Migration. Gleichzeitig geht er davon aus, dass die Einkommen zwischen industrialisierten Ländern und Entwicklungsländern vor dem Hintergrund der Globalisierung in Zukunft weiter konvergieren werden.

Dieser Schlussfolgerung gegenüber ist allerdings der wichtige Vorbehalt zu machen, dass die Annäherung der Einkommen nicht auf alle Regionen gleichermaßen zutrifft. Wie Milanovic selbst zeigt, ist dies insbesondere zwischen Afrika (insbesondere dem sub-saharischen Afrika) und den Industrieländern einschließlich der EU nicht der Fall, und es ist nicht zu erwarten, dass sich dies in näherer Zukunft grundlegend ändern wird. Deshalb und aufgrund der geographischen Nähe sind die Staaten Europas besonders attraktiv für MigrantInnen aus Afrika. Angesichts der politischen Reaktionen auf die Ankunft geflüchteter Menschen in den letzten eineinhalb Jahren ist offensichtlich, dass diese Konstellation eine besondere Herausforderung für die EU darstellt. Eine Herausforderung, die umsichtige politische Antworten abseits tagespolitischer Aufgeregtheiten benötigt.

Den positiven Beitrag von Migration wahrnehmen

Milanovic betont dass – auch wenn es kein kodifiziertes, universelles Menschenrecht auf unbeschränkte Migration gibt (im Gegensatz zu den Rechten von Geflüchteten unter der UN Flüchtlingskonvention), es aus ökonomischer Sicht keinen Grund gibt, die Bewegung von Menschen über Grenzen anders zu behandeln als die Bewegung von Gütern, Dienstleistungen oder Kapital. Deshalb argumentiert er, ebenso wie andere ÖkonomInnen, dass Migration sowohl für die MigrantInnen als auch die Zielländern von Nutzen sei. Der Zuwachs an Einkommen, den ein/eine afrikanische ArbeitsmigrantIn in Europa erhält, ist um ein Vielfaches größer als eine Einkommenssteigerung, die diese Person in Afrika realistischerweise erwarten kann. Wie wir wissen, hat das in der Folge positive Sekundäreffekte, indem auch das Herkunftsland profitiert, etwa durch das Einkommen aus sogenannten remittances (Rücküberweisungen). Falls eine Person in ihr Herkunftsland zurückkehrt, können die neu erworbenen Kompetenzen und Ersparnisse die produktiven Potenziale des Herkunftslandes steigern. Genauso profitiert das Zielland, da MigrantInnen oft Arbeiten annehmen, welche von ansässigen ArbeiternehmerInnen nicht übernommen werden. Im Durchschnitt leisten migrantische ArbeiterInnen auch einen positiven Nettobeitrag zum Wohlfahrtssystem, wie der Wirtschaftsforscher Peter Huber in einem ÖFSE Beitrag für Österreich ausgeführt hat.

Hinsichtlich der Migrationspolitik wirft Milanovic den Regierungen in Industrieländern daher Widersprüchlichkeit vor: Während die Prinzipien des Freihandels und der Kapitalverkehrsfreiheit trotz des Bewusstseins, dass die Liberalisierung auch VerliererInnen produziert, seit langem hochgehalten werden, wird Migration aufgrund negativer Nebeneffekte abgelehnt. Anstelle dieser pauschalen Ablehnung sollten vielmehr kompensatorische Maßnahmen ergriffen werden, die allfällige Negativeffekte abmildern. Migrationspolitik sollte verwendet werden, um die globale Konvergenz von Einkommen voranzutreiben. Dazu fordert Milanovic ein begrenztes, aber höheres Niveau an legaler Migration als bisher. Diesem Vorschlag ist grundsätzlich zuzustimmen. Wollen wir in Europa den Migrationsdruck aufgrund von Einkommensungleichheiten ausgleichen, muss es Teil der Antwort sein, ein höheres Ausmaß an Immigration aus armen Ländern zuzulassen.

Wirtschaftliche Entwicklung in den Ländern fördern

Jedoch würden wir dies mit einem zusätzlichen Element ergänzen, welches Milanovic in seinem Buch nicht anspricht. Wenn es erstens richtig ist, dass Einkommensunterschiede zwischen Europa und Afrika in der näheren Zukunft nach wie vor hoch bleiben werden und somit der Migrationsdruck nicht abnehmen wird und es zweitens politisch zumindest derzeit unrealistisch ist, die Zahl der ImmigrantInnen aus Afrika substanziell zu erhöhen, und wenn wir drittens darin übereinstimmen, dass immer restriktivere Abschottungspolitiken aus humanitären Gründen abzulehnen sind, besteht der wesentliche zumindest in der langen Frist erfolgversprechende Ansatz in der Förderung der ökonomischen Entwicklung Afrikas bzw. der Entwicklungsländer insgesamt. Auch wenn aus unterschiedlichen Gründen ein bestimmtes Ausmaß an Migration immer stattfinden wird und wirtschaftliche Prosperität zumindest zeitweilig auch zu mehr Migration führen kann, lässt sich doch belegen, dass bei positiver wirtschaftlicher Entwicklung im eigenen Land für viele Menschen der Anreiz zur Migration langfristig abnimmt.

Dazu wird eine substantielle Erhöhung der EU-Entwicklungszusammenarbeit notwendig sein. Bedeutender erscheint aber noch eine Änderung der Ziele und Inhalte der Entwicklungszusammenarbeit. Die Betonung muss auf der Förderung regionaler wirtschaftlicher Entwicklung und der Schaffung von Arbeitsplätzen liegen. Die Ankündigung des deutschen Ministers für Entwicklungszusammenarbeit Gerd Müller, im Rahmen der deutschen G-20 Präsidentschaft einen neuen Marshallplan für Afrika auszuarbeiten, kommt daher zur rechten Zeit, auch wenn das Ziel, jährlich 20 Millionen neue Jobs in Afrika zu schaffen, unrealistisch ist. Dass nunmehr eine Debatte über die wirtschaftliche Entwicklung Afrikas stattfindet, ist aber zu begrüßen.

Jedoch wird Entwicklungszusammenarbeit alleine nicht ausreichen. Die Europäische Union sowie andere entwickelte Volkswirtschaften müssen ihre Politiken zum Zweck der Unterstützung der ökonomischen Entwicklung Afrikas untereinander, vor allem aber mit den afrikanischen Partnern abstimmen und deren Kohärenz erhöhen. Das würde auch einen neuen Ansatz in der Handelspolitik nötig machen. Die vor kurzem verhandelten Wirtschaftspartnerschaftsabkommen zwischen der EU und afrikanischen Staaten fordern eine weitgehende Öffnung afrikanischer Märkte für europäische Exporte. Gleichzeitig sehen sie wenig vor, um die Entwicklung produktiver Fähigkeiten in afrikanischen Staaten voranzutreiben. Gerade das sollte aber die Top-Priorität der EU Entwicklungszusammenarbeit sein. Gegenwärtige EU-Politiken sind daher als inkohärent zu bezeichnen. Notwendig wären die Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe und die Förderung der institutionellen capabilities (Fähigkeiten) für eine eigenständige Wirtschaftsentwicklung.

Fazit – It takes two to tango

Der vorherrschende Ansatz des Schließens der Grenzen und der Abschreckung von MigrantInnen ist kurzsichtig und unmenschlich. Er trägt nichts zu einer Verbesserung der Situation in den Herkunftsländern bei. Um langfristig Ungleichheiten und somit Gründe für Migration zu reduzieren braucht es beides – legale Einwanderungsmöglichkeiten in Industrieländer und inklusive ökonomische Entwicklung in den Herkunftsländern. Zu Zweiterem könnten eine substantiell ausgeweitete und kohärente EU Entwicklungszusammenarbeit sowie ein alternativer Ansatz in der EU-Außenhandelspolitik einen wichtigen Beitrag leisten.

Dr. Werner Raza
Leiter der ÖFSE
Arbeitsschwerpunkte: Internationaler Handel, Entwicklungsökonomie und -politik

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