Aktueller Kommentar März 2018
Krise des Lernens oder Krise des Entwicklungsparadigmas? Anmerkungen zum World Development Report 2018
Der aktuelle Weltbank-Bericht widmet sich erstmals vollständig dem Thema Bildung. Gelingt es, Lernergebnisse sicherzustellen, dann spielt die Ressource Bildung eine zentrale Rolle als Entwicklungskatalysator, so der Tenor des Berichts. Aber hält diese Annahme einer tieferen Analyse stand? Und inwieweit hat die Weltbank selbst aus dem Scheitern ihrer früheren Bildungspolitik gelernt?
Von Margarita Langthaler (ÖFSE), März 2018
Der World Development Report 2018 (WDR 2018) trägt den Titel „Learning to realize education’s promise“. Die Schwerpunktwahl verdeutlicht, dass Bildung in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit wieder an Stellenwert gewinnt. Ähnliche Signale waren in den letzten Jahren von einer Reihe internationaler Initiativen ausgegangen, etwa der Kampagne „Education First“ des ehemaligen UN-Generalsekretärs Ban Ki-Moon oder jüngst von der hochrangig besetzten Finanzierungskonferenz des Global Partnership for Education.
Der Bericht greift zudem einen Paradigmenwechsel in der internationalen Bildungsdiskussion auf: Bildungsbeteiligung alleine sei zu wenig, notwendig seien vielmehr Lernergebnisse.
In einem ersten Teil beschreibt der Bericht die positiven Wirkungen effektiven Lernens. Dazu zählen individuelle Freiheiten, bessere Einkommen, Wirtschaftswachstum und Demokratieverständnis. Der zweite Teil erläutert die Krise des Lernens. Weltweit verfügen 125 Millionen Kinder nach vier Jahren Schulbesuch nicht über Grundkenntnisse im Lesen und Schreiben. Die Ursachen der Lernkrise sieht der Bericht einerseits in unzureichenden Rahmenbedingungen wie Ressourcenknappheit, schlechter LehrerInnenausbildung, Missmanagement und den negativen Folgen von Armut auf die kognitiven Fähigkeiten von Kindern. Tiefere Ursachen liegen in den Interessenskonflikten unterschiedlicher Akteure, die zu ineffizienten Bildungssystemen führen.
Zur Lösung der Lernkrise weist der Bericht drei Handlungsbereiche aus. Zunächst macht die Erhebung von Lernergebnissen die Krise sicht- und greifbar. Evidenzbasierte Reformstrategien sollen zweitens die SchülerInnen besser zum Lernen befähigen, LehrerInnen stärker motivieren und die Schulen auf das Hauptziel Lernen ausrichten. Im dritten Handlungsbereich gilt es, alle gesellschaftlichen Akteure hinter dem gemeinsamen Ziel der Schaffung effektiver Bildungssysteme zu vereinen.
Einiges dazu gelernt……
Die Weltbank ist seit vielen Jahrzehnten der einflussreichste Akteur in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit im Sektor Bildung. Ihre bildungspolitischen Vorgaben haben in der Vergangenheit vielfach Kritik von Seiten der betroffenen Länder, zivilgesellschaftlicher Organisationen und der kritischen Bildungswissenschaft hervorgerufen. Die Frage ist daher berechtigt, ob und wie viel die Weltbank selbst aus dem Scheitern ihrer früheren Bildungsstrategien gelernt hat.
Tatsächlich enthält der Bericht einige unerwartete Neuerungen. Auf konzeptioneller Ebene ist eine bemerkenswerte Öffnung zu erkennen. Die Bildungspolitik der Weltbank basiert seit Jahrzehnten auf der Humankapitaltheorie, die wegen ihres ökonomistischen Bildungsverständnisses zu problematischen Politikvorgaben, v.a. der Fokussierung auf die Primarschulebene bei Vernachlässigung weiterführender Bildungsebenen geführt hat. Zwar bleibt die Humankapitaltheorie die vorherrschende konzeptionelle Grundlage des Berichts. Der Fokus auf die Kategorie Lernen anstelle von Einschulungsraten drückt jedoch eine gewisse Abkehr vom „produktivistischen“ Bildungskonzept aus. Das gilt auch für die wiederholten Verweise auf das Menschenrecht Bildung, das Konzept der menschlichen Entwicklung und den Capability-Ansatz, die ein ausgeweitetes Verständnis von Entwicklung und der Rolle von Bildung deutlich machen.
Auf Ebene der Politikempfehlungen wartet der Bericht ebenfalls mit einer Reihe von Neuerungen auf, die insbesondere von der Zivilgesellschaft begrüßt werden. Wesentlich sind hier einerseits der Umgang mit Privatsektorbeteiligung, andererseits die Darstellung standardisierter Leistungsmessungen, die im Vergleich zu früher sehr viel differenzierter ausgefallen sind.
…. aber Vieles bleibt beim Alten
Daneben gibt es aber auch Kontinuitäten, vor deren Hintergrund die Weltbank-Bildungspolitik nach wie problematisch erscheint. Bei näherer Betrachtung zeigt sich ein weiterhin sehr enges Konzept von Lernen, das letztlich auf den Erwerb von messbaren und über formale Strukturen vermittelten Wissensbeständen und Fertigkeiten reduziert wird. Ein solch instrumentelles Verständnis von Lernen ist keine Besonderheit der Weltbank, sondern liegt auch der Bildungspolitik der OECD zugrunde. Seine Anwendung wird in der Bildungswissenschaft generell kontrovers diskutiert. Im Kontext der Weltbank-Bildungspolitik zeigen sich zudem einige spezifische Problematiken.
Zunächst wird auf diese Weise ein „kolonialer Blick“ fortgeschrieben. Der dominante Diskurs stellt die Menschen ohne oder mit geringer Schulbildung in europäisch-modernistischer Tradition als unwissend und lernresistent dar. Eine solche Defizit-Logik lässt vollkommen außer Acht, dass es ein hohes Maß an Wissen, Fertigkeiten und Lernfähigkeit braucht, um unter widrigen Umständen einen Lebensunterhalt zu sichern. Es geht also nicht so sehr um einen Mangel an Lernen, sondern vielmehr darum, welche Art von Lernen für den sozialen Aufstieg von Wert ist und wie der Zugang dazu gesellschaftlich organisiert ist. Aus dieser Perspektive betrachtet, erweist sich die Krise des Lernens als Symptom von Machtasymmetrien und Wissenshierarchien auf unterschiedlichen Ebenen.
Zweitens führt ein instrumentelles Verständnis von Lernen zu einem pragmatischen Blick auf Ursachen und Lösungen der Lernkrise. Zwar spricht die Weltbank heute nicht mehr nur von Effizienzproblemen, sondern erwähnt auch die komplexe politische Ökonomie der Bildungssysteme. Doch ist die Darstellung in hohem Grade geschichtsvergessend und lenkt den Blick bedenklich weg von den globalen Rahmenbedingungen und der Verantwortung zentraler Akteure wie der Weltbank selbst.
So bleibt der für die meisten Länder des Globalen Südens wirkmächtige koloniale Ursprung ihrer Bildungssysteme, die per Definition segregierend und elitär waren, unerwähnt. Die Kontinuitäten überwiegen meist die Brüche und betreffen, neben der hohen Bildungsungleichheit, Aspekte wie Unterrichtssprache, Lehrpläne und Methoden, die Schule für Viele schwer zugänglich oder eingeschränkt relevant machen. In der jüngeren Vergangenheit hat die Politik der Weltbank und anderer internationaler Akteure mit Vorgaben wie massiven Budgetkürzungen, Einführung von Schulgebühren oder Verzicht auf adäquate LehrerInnenausbildung die Fragmentierung von Bildungssystemen verstärkt.
Letztlich bleibt ein instrumentelles Verständnis von Lernen einem produktivistischen und modernistischen Paradigma von Entwicklung verhaftet, das die wechselseitige Bedingtheit von Bildung mit wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Faktoren unzureichend in Rechnung stellt.
Auf Ebene der Politikempfehlungen zeigen sich die Auswirkungen der konzeptionellen Engführung darin, dass suggeriert wird, die Lernkrise könne weitgehend durch Interventionen ins Bildungssystem behoben werden. So geht etwa die begrüßenswerte Betonung von Maßnahmen der frühkindlichen Entwicklung nicht weit genug, da sie sich im Wesentlichen auf die Kinder beschränkt. Die jüngere Bildungsforschung zeigt jedoch, dass auf ökonomischer, sozialer, kultureller und emotionaler Ebene nachhaltige Verbesserungen im Umfeld der Lernenden hergestellt werden müssen, die Lernfähigkeit erst ermöglicht.
Der Bericht ist zu vorsichtig in der Schlüsselfrage der Schulbesuchskosten. Eine Senkung dieser Kosten wird empfohlen, aber der Bericht verabsäumt es, eine starke Botschaft für kostenfreie und öffentliche Schulsysteme auszusprechen.
Hinsichtlich der Lehrkräfte spricht sich der Bericht zwar, im Gegensatz zu früher, für adäquate Ausbildung, Entlohnung und Arbeitsbedingungen aus, geht aber auch hier nicht weit genug. Das Phänomen der Abwesenheit von LehrerInnen wird beklagt, aber in seiner Strukturhaftigkeit nicht analysiert. Konkrete Empfehlungen wie leistungsabhängige Entlohnungen gelten in der bildungswissenschaftlichen Literatur als fragwürdig.
In der Lücke steckt die Tücke
Problematisch sind zudem einige Lücken im Bericht. Neben der unterlassenen Reflexion früherer Weltbankpolitik ist das die schwache Auseinandersetzung mit der globalen Herausforderung Bildungszugang. Die UNESCO geht von weltweit 264 Millionen Kindern, die nicht zur Schule gehen, und rund 750 Millionen erwachsenen AnalphabetInnen aus. Das Problem wird durch Verbesserung der Lernergebnisse nicht gelöst.
Unterbelichtet bleibt auch die Herausforderung Bildungsungleichheit und insbesondere ihr Zusammenhang mit der sozialen Ungleichheit. Als schweres Versäumnis sieht vornehmlich die internationale Zivilgesellschaft das Schweigen des Berichts zum Thema Bildungsfinanzierung. Angesichts der enormen Finanzierungslücke hätte eine Publikation von der Reichweite des World Development Reports mindestens zwei wesentliche Aufgaben: Einerseits eine Lanze für die ausreichende Dotierung nationaler Bildungsbudgets zu brechen, andererseits für eine Erhöhung der internationalen Official Development Assistance (ODA) im Bildungssektor zu lobbyieren.
Wirklich bemerkenswert ist abschließend das Fehlen von Verweisen auf die UN-Agenda 2030 und die Sustainable Development Goals (SDGs). Das SDG 4 ist Bildung gewidmet. Es inkludiert die Forderung nach einer Verbesserung der Lernergebnisse, geht aber weit darüber hinaus. Es ist in seinem Bildungsverständnis, seiner Ausrichtung und seinen Unterzielen weitaus komplexer, umfassender und transversaler als die Bildungsvision des WDR 2018. Es ist als wesentliches Versäumnis des Berichts anzusehen, dass dieser nicht von der international abgestimmten Bildungsagenda ausgeht, sondern einen weitaus engeren konzeptionellen Rahmen benutzt.
Dementsprechend fehlt im WDR 2018 auch der Transformationsgedanke der Agenda 2030 völlig, sowohl was die Aufgaben von Bildung als auch was die notwendige Veränderung von Lehren und Lernen hin zu „transformativer Bildung“ betrifft. Es darf daher bezweifelt werden, dass die Verbesserung von Lernergebnissen, sofern sie im engen Verständnis des WDR 2018 erfolgt, zur Transformation des globalen Entwicklungsparadigmas in einem nachhaltigen und sozial-inklusiven Sinn beitragen wird.
Dr.in Margarita Langthaler, Senior Researcher (ÖFSE)
Arbeitsschwerpunkte: Bildungsstrategien in der EZA, Berufliche Bildung und Skills Development,
Bildung und die Sustainable Development Goals (SDGs), Entwicklungsforschung in Österreich
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