Aktueller Kommentar September 2023

On the road to (no)where? Halbzeit bei den SDGs

Werner Raza

2015 wurden die Agenda 2030 mit den Sustainable Development Goals (SDGS) beschlossen. Bereits zur Halbzeit steht fest: der aktuelle Fortschritt reicht nicht aus, um die Ziele zeitgerecht zu erreichen. Das liegt nicht nur am Versagen der Politik, sondern hat tieferliegende Gründe. Zeit für eine nüchterne Ursachenforschung und einen Ausblick in eine ungewisse Zukunft.

Von Werner Raza (ÖFSE), September 2023

Talking Heads of State, aber kaum Fortschritte

“Ich wollte einen resignierten, doch frohen Ausblick auf den Untergang schreiben”, bekannte Talking Heads Sänger David Byrne einmal über den titelgebenden Song für diesen Kommentar. Blickt man auf die vielen Berichte (z.B. HIER, HIER und HIER) über den unbefriedigenden Zwischenstand bei der Bekämpfung globaler Megaprobleme, kann man sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Welt den sich abzeichnenden existenziellen Bedrohungen in der Tat mit eigentümlicher Gelassenheit begegnet. Trotz einer sich von Jahr zu Jahr zuspitzenden Krisendynamik mit Hitzesommern, Überflutungskatastrophen und Rekorddürren.

Umfragen weisen darauf hin, dass die Bürger*innen Probleme wie die Klimakrise, die Zunahme der Ungleichheit, die Bekämpfung von Armut und Hunger für dringlich halten und Maßnahmen zu deren Bewältigung grundsätzlich unterstützen. Die politischen Verantwortlichen im globalen Norden wie Süden scheinen aber nicht willens oder in der Lage zu sein, die von zahllosen Wissenschafter*innen geforderten Maßnahmen endlich zu ergreifen (siehe z.B. HIER und HIER).

Zwar erleben wir ein sich immer schneller drehendes diplomatisches Gipfelkarussell – Klimafinanzierungsgipfel im Juni in Paris, BRICS Gipfel im August in Südafrika, G-20 Gipfel Anfang September in Indien, oder zuletzt den SDG-Gipfel im Vorfeld der UN-Generalversammlung in New York. Fakt ist aber, dass die redlichen Bemühungen einzelner Politiker*innen (z.B. UN-Generalsekretär António Guterres), den Druck auf die Regierungen zu erhöhen, bislang kaum greifbare Resultate gezeitigt haben. Ob sich dies angesichts der nächsten Gipfeltreffen – z.B. der COP-28 Anfang Dezember in Dubai, oder des für September 2024 geplanten UN Summits of the Future - ändern wird, ist mehr als ungewiss.

Österreich: same same, but different

Ein Blick auf Österreich zeigt, dass auch hier die Mühlen langsam mahlen. Zwar verweist die Regierung nicht ganz zu Unrecht darauf, dass wir im internationalen Vergleich gut dastehen, was die Umsetzung der SDGs betrifft. Sie vergisst aber, dass Österreich von im internationalen Vergleich sehr guten Voraussetzungen profitiert. Auch sei darauf hingewiesen, dass laut OECD Österreich voraussichtlich nur bei einem Viertel der SDG Indikatoren die Zielwerte bis 2030 erreichen wird. Beim ODA Ziel wird sogar konstatiert, dass sich Österreich von der Zielerreichung weg bewegt, eine Einschätzung, die von der Statistik Austria bestätigt wird. Ein ähnlicher Befund ergibt sich auch beim Klimathema, wo das derzeitige Tempo nicht ausreichen wird, um die EU-Dekarbonisierungsziele erreichen zu können (siehe HIER).

Politikversagen oder tiefergehende Ursachen? 

Der Kontrast zwischen den eingangs zitierten Umfragen und dem geschilderten Leerlauf in der (internationalen) Politik würde darauf hindeuten, dass das System Politik die Interessen der Bürger*innen gegen besseres Wissen ignoriert. Das ist eine Sicht, die auch von vielen klimapolitisch engagierten Wissenschafter*innen transportiert wird. In diesem Zusammenhang wird oft auf die Macht von organisierten Vetokoalitionen hingewiesen, die Fortschritte verhindern. Wer den zeitgenössischen Politikbetrieb kennt, wird dem nicht widersprechen können. Auch hat der Verteilungsforscher Lucas Chancel gezeigt,  dass gerade die reichsten Bevölkerungsschichten überproportional für Umwelt- und Klimaverschmutzung verantwortlich sind.  Nachdem die Reichen aber gleichzeitig über die Ressourcen verfügen, um mit den Auswirkungen der Klimakatastrophe in Zukunft am ehesten zurande zu kommen, ist ihr Interesse an Klimaschutz jetzt nicht sehr ausgeprägt. Überreichtum blockiert damit notwendige sozial-ökologische Transformation.

Beide Erklärungen sind plausibel, erzählen aber nicht die ganze Wahrheit. Trotz des vielen strategisch notwendigen Unsinns, der den Bürger*innen in die Augen gestreut wird, müsste doch letztlich zu erwarten sein, dass klimapolitisch säumige Regierungen irgendwann abgewählt und durch engagiertere ersetzt werden. Zumindest in aufgeklärten demokratischen Gesellschaften. Das beobachten wir aber nicht, im Gegenteil, in vielen westlichen Demokratien wurden in den letzten Jahren Regierungen gewählt, für die das Thema Klima - bzw. damit verbundene Themen wie die Bekämpfung der Ungleichheit - wenig bis gar keine Priorität hat.

In der wissenschaftlichen Diskussion wird darauf hingewiesen, dass neben Trittbrettfahrereffekten vor allem die Temporalität der Klimakrise die notwendigen Klimamaßnahmen verhindert. Dadurch dass die Auswirkungen des heutigen Nichthandelns erst langfristig eintreffen, demokratisch verfasste Politik aber maximal in Zyklen von vier bis fünf Jahren denkt, passiere eben jetzt viel zu wenig. Die nötigen Maßnahmen werden verschoben, bis ein weiterer Aufschub direkt existenzbedrohend ist.

Solch düsteren Prognosen liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen eine positive Zeitpräferenz haben, also Konsum in der Gegenwart höher schätzen als in der Zukunft. Nachdem Bevölkerungen aus Kohorten unterschiedlichen Alters bestehen, wird daher auch die Dringlichkeit der Klimapolitik unterschiedlich eingeschätzt. Die jüngeren Kohorten messen dem Thema höhere Priorität bei, werden sie doch aufgrund ihrer statistischen Lebenserwartung mit den Auswirkungen konfrontiert sein. Ältere Kohorten werden die zunehmend dramatischen Auswirkungen nicht mehr erleben, haben also wenig Anreiz, ihren liebgewonnenen Lebensstil zu ändern. Steigende gesellschaftliche Ungleichheit verstärkt dies zusätzlich. Die Zeitpräferenz lässt sich letztlich auf die conditio humana zurückführen: Menschen unterliegen einer endlichen Existenz, und wissen nicht, wann sie sterben werden.  Damit ist allerdings noch keine Aussage über die Höhe der Zeitpräferenz getätigt. Diese hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Sie steigt, wenn Menschen hauptsächlich mit dem Kampf ums tägliche Überleben befasst und ihre Zukunftsaussichten schlecht sind. Sie kann sinken durch kulturelle Faktoren wie die Sorge um die Enkelkinder (institutionalisiert z.B. in den Omas for Future), durch religiöse Überzeugungen  (z.B. Gebot der Erhaltung der Schöpfung, Verehrung der Natur (Pacha Mama) in indigenen Kulturen), oder durch Bildung verbunden mit guten Zukunftsperspektiven).

Klar ist, dass sich soziale Ungleichheit, Prekarisierung und Armut in den letzten drei Jahrzehnten verschlimmert haben, was die Zukunftsaussichten breiter Bevölkerungsteile beeinträchtigt. Überspitzt formuliert, ist es für die steigende Zahl von Menschen ohne Zukunft irrational, die mit progressiver Klimapolitik verbundenen Änderungen in Lebensstil und Konsum zu unterstützen. Rationaler ist es, darauf zu schauen, das (vermeintlich) Wenige abzusichern, was mensch bereits hat. In diesem Zusammenhang liegt eine wichtige Ursache dafür, dass sich die politischen Kräfteverhältnisse nicht entscheidend zugunsten von Mehrheiten für die sozial-ökologische Transformation verschieben, sondern mit dem Aufkommen klimaskeptischer politischer Kräfte sogar Rückschläge drohen.

On the road to where?

Eine zentrale Schlussfolgerung aus dieser Analyse ist, dass die sozial-ökologische Wende nicht von oben durch eine aufgeklärte technokratische Politik durchgesetzt werden wird. Die Wende wird, wenn überhaupt, von unten, durch gesellschaftliche Mobilisierung und Druck kommen. Dies kann aber nur erfolgreich sein, wenn es gelingt, breite Bündnisse von Akteur*innen aus unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen zu schmieden, auf nationaler wie auf internationaler Ebene. Es braucht eine attraktive Vision einer nachhaltigen Zukunftsgesellschaft, basierend auf einem neuen sozial-ökologischen Gesellschaftsvertrag. Um Menschen für die notwendige Transformation zu gewinne, sind Mitgestaltungsmöglichkeiten von zentraler Bedeutung. Also die Ausweitung der Räume für demokratische Partizipation und die Erprobung neuer Formen deliberativer Demokratie. Dazu gehören etwa Bürger*innenräte oder partizipative Grätzel- und Stadtplanung. Darüber hinaus voranzutreiben wären rechtspolitische und institutionelle Innovationen wie etwa die Stärkung der Rechte der Natur und jene zukünftiger Generationen. Die Einrichtung eines UN-Ministeriums für die Zukunft‘ ist derzeit noch Science Fiction. Wir werden aber über solche Innovationen ernsthaft nachdenken müssen, um politische Repräsentationslücken zu schließen.

Immer deutlicher wird aber auch, dass angesichts der bestehenden Machtverhältnisse und der sich vertiefenden politischen Polarisierung in den westlichen Gesellschaften nicht mit einem raschen sozial-ökologischen Transformationsprozess zu rechnen ist. Eher werden sich politische Auseinandersetzungen zuspitzen, Krisen sich vertiefen, und demokratische politische Systeme großen Belastungsproben ausgesetzt werden. Wir wissen mithin nicht, wohin uns der Weg führt. Die Aufgabe gesellschaftlich engagierter Sozialwissenschaft wird es dabei sein, Argumente für eine demokratisch ausgehandelte sozial-ökologische Transformation zu liefern und Wege zu ihrer nationalen wie globalen Umsetzung aufzuzeigen.

Dr. Werner Raza ist wissenschaftlicher Leiter der Österreichischen Forschungsstiftung für Internationale Entwicklung.
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